Gute Laune in der Industrie 4.0

Doch die Gegenwart des »Modells Deutschland« hängt an preiswerter Energie aus Russland

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach zwei Jahren öffnen sich wieder die Tore der weltweit wichtigsten Industriemesse für zehntausende Besucher. Die Stimmung war allerdings schon mal besser. »Der konjunkturelle Ausblick sieht sehr trübe aus«, klagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm, als er kürzlich den Quartalsbericht seines Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) vorstellte. Wegen immenser Unsicherheiten und immer neuer Engpässe in der Produktion verzichtet die mächtige Wirtschaftslobby sogar auf die übliche Jahresprognose.

Rechtzeitig zum Beginn der Hannover Messe an diesem Montag legte der Chemieverband nach: Vom erhofften Aufschwung nach dem Corona-Winter sei nichts mehr übrig. »Die Perspektiven unserer Branche sind wegen steigender Energie- und Rohstoffkosten zunehmend düster«, erklärte VCI-Präsident Christian Kullmann, Vorstandschef von Evonik. Die Chemieproduktion sei bereits rückläufig, die Kapazitätsauslastung nehme ab.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Die aktuellen Probleme könnten zum Dauerbrenner werden. Das Geschäftsmodell der drittgrößten deutschen Industriebranche beruht bislang auf preiswerter Energie aus Russland. Nicht ganz so energieintensiv arbeiten die beiden anderen Spitzenbranchen – Automobil- und Maschinenbau. Direkt in deren Unternehmen fallen zwar nur etwa 20 Prozent des damit verbundenen CO2-Ausstoßes an, 80 Prozent aber in der vor- und nachgelagerten Lieferkette. Etwa beim Lkw-Transport oder in der Strom fressenden Stahlproduktion.

Allein die Hochöfen von Thyssen-Krupp am Standort Duisburg sollen 2,5 Prozent der gesamten CO2-Emissionen in Deutschland produzieren. Aber mit der billigen Energie und damit dem »Industriemodell Deutschland« könnte es nun vorbei sein. Die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Margrethe Vestager, stimmte Europa in der vergangenen Woche auf dauerhaft höhere Preise ein. Ein großer Teil der Industrie basiere auf »sehr billiger Energie aus Russland, auf sehr billiger Arbeitskraft aus China und auf hochsubventionierten Halbleitern aus Taiwan«.

Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) kritisierte kürzlich erneut die extreme Exportorientierung der deutschen Industrie. »Innerhalb Deutschlands verweisen hohe Leistungsbilanzüberschüsse auf ein ungleichgewichtiges Wachstumsmodell, von dem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung profitiert«, schreibt Philipp Heimberger vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Der deutsche Überschuss stieg seit dem Euro-Beitritt vor allem wegen der zunehmenden Einkommensungleichheit, wie auch der IWF zeige.

Unberührt von solcher Kritik sind die Pläne, die auf der Hannover Messe präsentiert werden, natürlich hochtrabend. 2500 Unternehmen aus 60 Ländern zeigen auf dem weitläufigen Messegelände ihre Innovationen für die Fabriken und Energiesysteme von morgen. Eröffnet wird die Industrieschau von Bundeskanzler Olaf Scholz.

Ein massiver Umbruch vollzieht sich, ganze Betriebsabläufe werden neu gedacht. Fertigungsanlagen, die mit Werkteilen Informationen austauschen und bei Bedarf selbstständig einen Techniker um Hilfe bitten? In der »Industrie 4.0« ist dies Realität. Die maschinelle Produktion vernetzt sich dank modernster Kommunikationstechnik zu einem selbstlernenden System, einer so genannten Smart Factory.

Basis dieses industriellen Wandels bildet das »Internet der Dinge«, das den ständigen Datenaustausch zwischen sämtlichen Beteiligten ermöglicht – vom Fertigungsroboter über die Lagerhaltung bis hin zum Mikrochiphersteller. »So werden sämtliche Produktions- und Logistikprozesse miteinander verknüpft – und unsere Industrie wird intelligenter, effizienter und nachhaltiger«, heißt es in einer Vorankündigung der Messeleitung.

Dabei geht die Großindustrie voran. Für die Datenaustausch-Plattform »Catena-X«, entwickelt von dem baden-württembergischen Konzern SAP, haben sich die Schwergewichte in der automobilen Industrie von Bosch, BMW und Daimler bis zu Telekom und Siemens verbündet. »Wir wollen nicht nur über die Produktion der Zukunft reden, sondern sie proaktiv gestalten«, sagt Jürgen Sturm, Vorstandsmitglied bei Catena-X und Chef des Zuliefer-Riesen ZF Friedrichshafen. Das Netzwerk soll die Nachverfolgung aller Komponenten im »Datenökosystem« ermöglichen – vom ersten Rohstoff bis zum Recycling. Mit den verfügbaren Daten über den ökologischen Fußabdruck werde Kreislaufwirtschaft erst möglich und neue Geschäftsmodelle könnten entstehen, so Sturm weiter.

Wenn es um Industrie 4.0 geht, sieht sich die deutsche Wirtschaft ohnehin weit vorn. »Technologie kann einen riesigen Beitrag zum Klimaschutz leisten«, demonstrierte beispielsweise Siemens-Vorstand Cedrik Neike dementsprechend gute Laune. Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft hat sich insgesamt zuletzt ein wenig aufgehellt. Und auch der Ifo-Geschäftsklimaindex ist im Mai wieder gestiegen. Die Unternehmen waren vor allem merklich zufriedener mit den laufenden Geschäften. Die Zukunftserwartungen veränderten sich hingegen kaum, die Industrie bleibt weiter skeptisch.

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