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Ein vergessener Genozid
Die Serie »Pachinko« thematisiert die Kolonialisierung Koreas durch Japan und den darauffolgenden Massenmord
In letzter Zeit wird immer leichtfertiger von Genoziden – echten oder kulturellen – geredet, die von dieser oder jener Seite begangen würden. Dabei sind die Belege meistens dürftig. Wie ein tatsächlicher kultureller Genozid aussieht, hat Japan mit der Kolonisierung Koreas in der Zeit von 1910 bis 1945 vorgemacht. Historische koreanische Architektur wie Paläste oder Tempel wurden größtenteils zerstört, koreanische Beschriftungen entfernt und durch japanische ersetzt, die koreanische Sprache an Schulen und Universitäten verboten, über 200 000 historische koreanische Dokumente verbrannt und die zerstörten traditionellen Tempel durch japanische Shinto-Schreine ersetzt, in denen unter anderem auch die Kaiser der Eroberer verehrt wurden.
Alle, die ihre koreanischen Namen behielten und keinen japanischen annahmen, existierten für die japanischen Kolonialbehörden offiziell nicht. Sie bekamen keine Post und später keine Lebensmittelkarten. Diese Maßnahmen hatten zur Folge, dass am Ende der japanischen Herrschaft mindestens 84 Prozent aller Koreaner japanische Namen trugen. Selbst Millionen einheimischer Bäume wurden auf der koreanischen Halbinsel gefällt und durch japanische Kirschbäume und Kaizuka-Zypressen ersetzt.
Es blieb jedoch nicht beim kulturellen Genozid. Rund 800 000 Koreaner arbeiteten in japanischen Bergwerken und Fabriken, entweder als Zwangsarbeiter oder sie wurden mit falschen Versprechungen nach Japan gelockt, zu Hungerlöhnen und unter fürchterlichen Bedingungen. Als es dann im Jahr 1923 in der japanischen Region Kanto zu einem Erdbeben kam, bei dem Tokio und Yokohama nahezu dem Erdboden gleichgemacht wurden, schlachtete ein japanischer Mob gemeinsam mit der kaiserlichen Armee und der Polizei rund 6000 Koreaner ab, zusammen mit japanischen Kommunisten und Sozialisten. Sie mussten allesamt als Sündenböcke für das Erdbeben herhalten, und ihnen wurden Plünderungen unterstellt. Das war nicht das einzige Massaker an Koreanern, an dem die japanische Armee beteiligt war. Im Oktober 1920 hatte sie rund 5000 Koreaner in der nördlichen Stadt Gando – heute Teil der chinesischen Provinz Jilin – umgebracht, über einen Zeitraum von drei Wochen.
Die japanische Kolonisierung Koreas ist der Hintergrund für die achtteilige US-Serie »Pachinko« nach dem gleichnamigen Roman der koreanischstämmigen Amerikanerin Min Jin Lee, die seit Ende März auf Apple TV+ gestreamt werden kann. Die Serie ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, auch wenn sie zunächst wie eine eher herkömmliche, etwas süßliche, typisch ostasiatische Familiensaga wirkt. Allerdings ragt bereits in den ersten Folgen die schauspielerische Leistung der bisher unbekannten Kim Min-ha heraus, die den koreanischen Superstar Lee Min-ho neben ihr recht blass aussehen lässt. Was für ein eindrucksvolles, immer etwas müde wirkendes Gesicht, das man so schnell nicht mehr vergisst.
Spätestens aber bei der vorletzten Folge, die einfach nur »Kapitel sieben« heißt, wird deutlich, dass man es nicht mit einer bittersüßen Wohlfühlserie zu tun hat. Die Episode hat das Kanto-Erdbeben und das darauffolgende Massaker zum Gegenstand und findet sich so nicht in der Romanvorlage. Verantwortlich dafür, dass die historischen Ereignisse vorkommen, ist die Schöpferin und Co-Produzentin der Verfilmung, Soo Hugh, die bei den Recherchen zur Serie auf das historische Pogrom stieß, von dem selbst sie, als Tochter koreanischer Einwanderer in den USA, zuvor noch nie gehört hatte. Um eine akkurate Verfilmung zu gewährleisten, ließ sie ein Team von Experten und Historikern japanische Originaldokumente sowie Filmdokumentationen sichten und übersetzen. So wird in »Pachinko« zum ersten Mal nach knapp hundert Jahren ein westliches Publikum überhaupt mit dem Kanto-Massaker konfrontiert.
Dass dies in einer Eindrücklichkeit geschieht, die aus dem Serienrahmen heraussticht, ist dem koreanischen Regisseur Kogonada zu verdanken, der bereits mit den – ebenfalls in den USA gedrehten – Spielfilmen »Columbus« (2017) und »After Yang« (2021) brillierte. Zur Vorbereitung auf seine Rolle hat er Serienstar Lee Min-ho den sowjetischen Antikriegsfilm »Komm und sieh« (1985) ansehen lassen, und tatsächlich kann »Kapitel sieben« von »Pachinko«, das fast wie ein eigenständiger kurzer Spielfilm wirkt, phasenweise mit Elim Klimows Meisterwerk mithalten.
Hervorzuheben ist auch der berührende Schluss der Serie. Von den zwei Millionen Koreanern, die während der Zeit der japanischen Kolonisierung Koreas in Japan landeten, gingen die meisten nach 1945 zurück. 600 000 – so erzählt es eine Schrifttafel in Folge 8 – blieben jedoch als zunächst Staatenlose in Japan; staatenlos wurden sie, weil ihnen Japan sofort nach seiner Niederlage die japanische Staatsangehörigkeit aberkannte. Die letzten zehn Minuten widmet »Pachinko« Interviews mit einigen Frauen, die zu dieser Gruppe gehören und die 2021 noch leben. Abgesehen davon, dass es deutlich weniger Männer in dieser Alterskohorte gibt, sind es wohl deshalb auch nur Frauen, weil in der Serie die Schicksale von Frauen im Vordergrund stehen.
Die Interviewten sind mittlerweile zwischen 90 und mehr als 100 Jahre alt. Eine von ihnen hat ihr Alter komplett vergessen und rätselt: »Ich bin 80. Nein, 90! Bin ich 98? Vielleicht 99?« Damit ähnelt sie der Welt, die von dem versuchten Genozid Japans an den Koreanern nahezu nichts mehr weiß. Es bleibt zu hoffen, dass »Pachinko« wenigstens etwas dazu beiträgt, diesen weißen Fleck im Weltgedächtnis zu tilgen.
Verfügbar auf Apple TV+.
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