- Politik
- Nach der Wahl in Nordirland
Blockade in Belfast, Sorgen in Brüssel
Nach ihrem Wahlsieg hofft die nordirische Partei Sinn Féin auch auf die Hilfe der EU-Kommission
Die Wahlen in Nordirland vom 5. Mai haben die politische Landschaft der britischen Unruheprovinz schwer erschüttert. Mit der katholisch-republikanischen Sinn Féin wurde erstmals eine linke Partei stärkste Kraft, die zudem für eine Wiedervereinigung mit dem Süden der Insel kämpft. Entsprechend groß war das Entsetzen bei den Unionisten von der DUP, die bislang stets die größte Gruppe im Parlament stellten. Auch der britische Premier Boris Johnson war »not amused«. Konnte sich London doch stets darauf verlassen, dass in Belfast die Befürworter eines Verbleibs bei Großbritannien den Ton angeben.
Nun darf Sinn Féin, die einst enge Verbindungen zur militanten IRA unterhielt, mit Michelle O‹Neill den First Minister stellen. Als Regierungschefin müsste O‹Neill allerdings mit der zweitplatzierten DUP eine Regierung bilden. Laut dem Karfreitags-Abkommen von 1998, das der Region den brüchigen Frieden brachte, sollen die stärksten Parteien aus beiden konfessionellen Lagern zusammen regieren. Die protestantische DUP blockiert aber derzeit alle Bemühungen, hier zu einer Lösung zu kommen.
Die Unionisten boykottieren so auch die Konstituierung des Parlaments. »Die DUP will das demokratische Ergebnis nicht akzeptieren«, kritisierte die Sinn-Féin-Vorsitzende Mary Lou McDonald bei einer Pressekonferenz in Brüssel am Mittwoch. Sie sieht London in der Verantwortung: »Boris Johnson hält die Bevölkerung als Geiseln«, so McDonald. Die Parteichefin war zusammen mit der designierten Regierungschefin O‹Neill in die belgische Hauptstadt gekommen, um sich mit Vertretern der EU-Kommission zu treffen. Zuvor war man Gast in der Linksfraktion des EU-Parlaments, deren Mitglied Sinn Féin ist.
Allen Beteiligten ist klar, dass dieser Konflikt nicht in Belfast gelöst werden kann. Wenn man so will, wird hier ein Stellvertreterkonflikt zwischen London und Brüssel ausgetragen. So fordert die DUP, das Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags aufzukündigen. Das Protokoll sieht de facto einen Verbleib Nordirlands im EU-Binnenmarkt vor, um die Grenze zu Irland nicht zu einer harten Grenze werden zu lassen. Somit können Waren, Menschen und Dienstleistungen weiterhin ungehindert von Irland nach Nordirland gelangen. Im Gegenzug müssen aus Großbritannien kommende Waren in Nordirland kontrolliert und teilweise auch verzollt werden. Schließlich gilt die Nachbarinsel als Nicht-EU-Ausland.
Die Unionisten sehen darin einen Schritt auf dem Weg zur Loslösung von Großbritannien und wollen das Protokoll kippen. Angesichts der neuen Realitäten setzen sie auf Boykott. »Es war nie vorgesehen, dass stärkste Partei und First Minister republikanisch sind. Deshalb sind DUP und Premier Johnson nun auf Konfrontationskurs«, so die Sinn-Féin-Chefin. Im neuen Belfaster Parlament hätten die pro-irischen und neutralen Kräfte die Mehrheit.
Selbst Vertreter der konservativen Tories in Großbritannien schließen ein Referendum über die Zukunft Nordirlands nicht mehr aus. Deshalb liegen bei den Unionisten die Nerven blank und auch in London wird man zusehends nervös. »Die Kommission muss darauf drängen, dass die britische Regierung sich an das Protokoll hält«, forderte McDonald am Mittwoch vor dem Treffen mit Kommissions-Vize Maroš Šefčovič, der für die Umsetzung der Brexit-Verträge zuständig ist. »Wir in Nordirland haben übrigens gegen den Brexit gestimmt«, erklärte O‹Neill. Rund 55 Prozent der Wahlberechtigten in Nordirland stimmten für einen Verbleib in der EU.
Wie lange die Blockade noch andauern wird, kann derzeit niemand sagen. »Die DUP könnte ihren Boykott für 24 Wochen aufrechterhalten«, so O‹Neill gegenüber »nd«. »Das würde bedeuten, dass es sechs Monate keine Regierung in Belfast geben würde«, merkte Sinn-Féin-Chefin McDonald an. »Ich habe aber keinen Zweifel, dass es vorher Bewegung geben wird«, fügte sie hinzu.
Ob die Kommission hier helfen kann, bleibt abzuwarten. Brüssel und London liegen in der Nordirland-Frage seit Monaten im Clinch. Johnson drohte der EU, das Nordirland-Protokoll einseitig auszusetzen, sollte Brüssel nicht einlenken und neue Verhandlungen aufnehmen. Der skandalgeplagte Premier fordert, dass britische Waren wieder ohne Zollkontrollen nach Nordirland eingeführt werden können. Brüssel zeigt sich in der Frage bislang unnachgiebig. Der Streit könnte eskalieren und den gesamten Friedensprozess unterminieren, fürchtet nicht nur Sinn-Féin-Chefin McDonald.
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