Politik mit zweierlei Maß

Christoph Butterwegge analysiert in seinem jüngsten Buch die sozialen Folgen der Coronakrise. Darin skandalisiert er eine wachsende gesellschaftliche Ungleichheit

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein Statement zur Pandemie – aus einem wohl eher gutbürgerlichen Haushalt heraus: Lockdown in Essen, Oktober 2020
Ein Statement zur Pandemie – aus einem wohl eher gutbürgerlichen Haushalt heraus: Lockdown in Essen, Oktober 2020

Das Infektionsgeschehen ist abgeflaut, die zuletzt dominierende Omikron-Variante hat sich als deutlich weniger »gefährlich« herausgestellt als vorhergesagt. Die Beschäftigten der Krankenhäuser arbeiten seit zwei Jahren über dem Limit, das Gesundheitssystem als Ganzes aber ist trotz düsterer Prognosen nicht zusammengebrochen. Ob das an den staatlichen »Schutzmaßnahmen« lag oder zeitweise einfach Panik geschürt wurde, ist umstritten.

Nun, wo das Thema (auch wegen des Ukraine-Krieges) aus der aktuellen Medienberichterstattung weitgehend verschwunden ist, häufen sich die Buchpublikationen, die das politische Handeln in der Pandemie bilanzieren. Christoph Butterwegge, 2017 Kandidat der Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten, konzentriert sich in seiner Rückschau auf die ökonomischen und sozialen Auswirkungen. Ungleichheit ist für ihn »das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, aus dem Armut, Prekarität und privater Reichtum erwachsen«. Daher müsse dies »auch im Mittelpunkt der Diskussion über die Pandemiefolgen stehen«. Das Virus habe die deutsche Gesundheitspolitik vor die »härteste Bewährungsprobe seit Jahrzehnten« gestellt. Nach Meinung des Autors traten die »Interessengegensätze zwischen einzelnen Bevölkerungsschichten« deutlich hervor. Wie im Brennglas seien soziale Schieflagen sichtbarer, zugleich aber viel zu wenig dagegen unternommen worden.

Butterwegge, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln, hat zahlreiche Bücher zu sozialpolitischen Fragen veröffentlicht, vor allem zur Kinderarmut. Er neigt dazu, etwas schablonenhaft jedes Problem auf eine vom »Neoliberalismus« verursachte Spaltung der Gesellschaft zu reduzieren. In manchen Fällen ist das zutreffend, bei der Analyse der Pandemiebekämpfung aber greift es zu kurz. Denn die gesellschaftliche Polarisierung in der Coronakrise folgte eben nicht einem traditionellen Erklärungsschema.

Wenig Kritik von links

Vor allem der erste Lockdown im Frühjahr 2020 war geprägt von einem Klima der Angst. Oppositionelle Minderheiten wurden pauschal als Verschwörungstheoretiker oder gleich als »Covidioten« diffamiert. Einzelne liberale und konservative Juristen monierten die massive Einschränkung von Freiheitsrechten, von links dagegen war wenig Kritisches zu hören. Auch bei Butterwegge klingt durch, dass er sich von den ständigen Appellen an das »Große Wir«, von den Mahnungen in einer Notsituation zusammenzustehen und gemeinsam »Solidarität« zu praktizieren, vereinnahmen, ja geradezu »kapern« ließ – so nennt das überspitzt seine politikwissenschaftliche Kollegin Ulrike Guérot.
Die rigiden Verordnungen gegen die Ausbreitung des Virus ließen sich im bürgerlichen Eigenheim mit Garten erheblich besser aushalten als in einer kleinen Wohnung ohne Balkon im Arbeiterviertel. Ausgangs- und Kontaktverbote, die monatelange Schließung von Schulen, das (teils völlig übertriebene) Absperren von Parks, Kinderspielplätzen oder Jugendtreffpunkten sind nicht allein aus sozialpolitischer, sondern auch aus staatsrechtlicher Perspektive mit guten Begründungen kritikwürdig. Denn die Garantie bürgerlicher Grundrechte ist eine unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt, dadurch wird Chancengerechtigkeit erst ermöglicht. Das benennt den zentralen Widerspruch, das Kerndilemma von Butterwegges Argumentation: Er stimmt den behördlichen »Maßnahmen« als Mittel der Seuchenprävention nicht in allen Punkten, aber doch weitgehend zu – aber moniert nun deren Folgen.

Die »historische Ausnahmesituation« der Pandemie habe das »Phänomen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ungleichheit nicht hervorgebracht«, aber »um neue Facetten ergänzt und weiter verschärft«. Der Autor konstatiert: »Die epidemische Notlage förderte hierzulande einen zahlreiche Lebensbereiche erfassenden Polarisierungsprozess, der tiefe Gräben erkennen ließ.« An vielen Stellen benennt er wichtige Aspekte, die in der einseitig von Naturwissenschaft und Medizin geprägten Debatte lange zu kurz kamen. Es dauerte Monate, bis die verheerenden psychosozialen Folgen der staatlichen Eindämmungspolitik öffentlich diskutiert wurden: verstörte Kinder und Jugendliche, überforderte Eltern; vereinsamte Heimbewohnerinnen ohne Besuch; ruinierte, durch verfehlte Hilfsprogramme im Stich gelassene Soloselbständige und Kleinunternehmer; der Anstieg psychischer Erkrankungen, und nicht zuletzt die gravierenden Einbrüche im Betreuungs- und Bildungssystem, die vor allem die ohnehin Benachteiligten trafen.

Dichtgedrängt am Fließband

Während die Politik darüber debattierte, ob man die Tätigkeit von Baumärkten, Biergärten oder Bundesligisten unterbinden dürfe, gab es Butterwegge zufolge »fast keine öffentlich vernehmbare Widerrede«, als Kindergärten, Schulen und Jugendzentren geschlossen wurden. Die Coronakrise habe den Menschen bewusst gemacht, dass Bildungsorte »nicht bloß Institutionen der Wissensvermittlung, sondern auch wichtige Lebensräume und Kontaktbörsen junger Menschen jenseits des Unterrichtsalltags sind«. Er fordert eine verstärkte Kinder- und Jugendpolitik, um »langfristige Krisenfolgen abzufedern und vulnerablen Gruppen wie Minderjährigen sowie deren Familien trotz klammer öffentlicher Kassen und massiver Verteilungskämpfe mehr unterstützende und ausgleichende Angebote zu machen«. Sonst habe die »in vielerlei Hinsicht zerrissene« nachwachsende Generation »ebenso wenig eine rosige Zukunft wie die auseinanderdriftende Gesellschaft, in der sie lebt«.

Während der Staat »im Privat- und Reproduktionsbereich zum Teil drastische Eingriffe vornahm«, blieb der Produktionsbereich davon weitgehend verschont. Fabrikhallen, Baustellen und auch manche Büros wirkten »über weite Strecken der Pandemie, als ob es solche Restriktionen nicht gäbe«. Von Anfang an, so Butterwegge, maß die Politik hier mit zweierlei Maß: Industriebetriebe wurden nicht vom Lockdown erfasst und zur Schließung gezwungen, das diente »hauptsächlich der Wettbewerbsfähigkeit und entsprach der neoliberalen Standortlogik«. Während selbst Veranstaltungen unter freiem Himmel untersagt wurden oder strenge Auflagen erfüllen mussten, »standen viele Arbeiter/innen – manchmal sogar ohne medizinische, Alltags- oder FFP2-Maske – dichtgedrängt am Fließband, sofern der zuständige Betriebsrat nicht für die Einhaltung der nötigen Arbeitsschutzmaßnahmen sorgte«.

Beamte und Angestellte auf höheren Gehaltsstufen konnten relativ problemlos ins Homeoffice wechseln und genossen so das Privileg eines geringeren Infektionsrisikos. Viele Besserverdienende mussten auch nicht »dichtgedrängt in Bussen und Bahnen zur Arbeit fahren«, sie nutzten ihr eigenes Auto als schützendes Gehäuse. Zudem setzt das Arbeiten von zu Hause, das ist ein wichtiger Aspekt in diesem Kontext, eine anspruchsvolle Zubringer-Logistik voraus, die eine weitere soziale Schlagseite nach sich zieht. Der in der Pandemie boomende Paket- und Lieferservice zwang »vor allem Menschen in niedrigbezahlten Dienstleistungsberufen zu mehr Kontakten«.

Historische Parallelen

Im ersten, besonders lesenswerten Kapitel gibt der Verfasser einen historischen Überblick über »Entstehung, Entwicklung und Erscheinungsformen von Epidemien«. Er zeigt dabei verblüffende Parallelen auf: Schon bei der Pest, der Cholera und der Tuberkulose waren Isolation und Quarantäne, Kontaktverbote und repressive Überwachung zentrale Gegenmittel. Wohlhabende Schichten waren dabei stets weniger gefährdet, sich anzustecken. Auch vor hundert oder zweihundert Jahren verfügten sie über bessere Möglichkeiten, staatlich dekretierte Beschränkungen auszuhalten oder diese zu umgehen – etwa durch den Rückzug in ein Haus auf dem Land. Und bereits im 19. Jahrhundert, nach der revolutionären Entwicklung der Pockenschutzimpfung 1796 durch den britischen Landarzt Edward Jenner, formierten sich die Gegner einer »allgemeinen Impflicht«.

Heute wie damals raunten radikalisierte Kritiker der staatlichen Seuchenbekämpfung von einer »systematischen Vergiftung des Volkskörpers durch eine verschworene Elite« oder witterten gar eine »jüdische Weltverschwörung«. Politikwissenschaftler Butterwegge, der sich neben dem Thema Armut auch viel mit Rechtsextremismus beschäftigt hat, hält es für keinen Zufall, dass sich zumindest Teilgruppen der »Querdenker« solcher Narrative bedienen. In deren Sympathisantenszene befänden sich neben extremen Ideologen auch zahlreiche Menschen, die schlicht »unter dem ökonomischen und sozialen Krisendebakel litten«. Neben dem »Arm-reich-Gegensatz« sei in der Coronakrise auch der »Oben-unten-Modus« hautnah erfahrbar gewesen, das Gefühl, weder über wirtschaftliche noch über politische Entscheidungsmacht zu verfügen. In dieser Situation entlasteten antisemitische Verschwörungsmythen die Betroffenen: Sie suggerierten ihnen, dass nicht sie selbst, »sondern andere, die Machenschaften dunkler Kräfte aus Hochfinanz oder Judentum«, schuld an ihren fehlenden Möglichkeiten der Einflussnahme seien.

Christoph Butterwegge: Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona. Beltz Juventa Verlag, Weinheim 2022. 250 Seiten, 19,95 Euro.

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