- Wirtschaft und Umwelt
- Mindestlohnanhebung
Wichtig, aber kein Allheilmittel
Acht Millionen Beschäftigte profitieren unmittelbar von der Mindestlohnanhebung auf zwölf Euro
Wenn es dieser Tage um Maßnahmen zur Abfederung der sozialen Folgen der horrenden Inflation ging, wurde häufig auch eine Sache erwähnt, die in der Ampel-Koalition schon lange vor dem Krieg in der Ukraine und dem damit verbundenen Anstieg der Preise beschlossene Sache war: die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes zum 1. Oktober. »Wir werden den gesetzlichen Mindestlohn in einer einmaligen Anpassung auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen«, hielten SPD, Grüne und FDP vergangenen Herbst in ihrem Koalitionsvertrag fest.
Diesen Freitag stimmt der Bundestag darüber ab. Eine Annahme gilt als sicher. Auch wenn die Arbeitgeberlobby gerne mal meckerte, dass damit in die Tarifautonomie der Sozialpartner eingegriffen werde, geschieht die Anhebung der gesetzlichen Lohnuntergrenze relativ geräuschlos. Auch die Linksfraktion kündigte ihre prinzipielle Zustimmung zum Gesetzesvorhaben bereits an.
Normalerweise bestimmt die Mindestlohnkommission die Anpassung der Lohnuntergrenze. Sie besteht aus jeweils drei Vertreter*innen der Arbeitgeberseite und der Gewerkschaften sowie zwei Wissenschaftler*innen ohne Stimmrecht. Zuletzt empfahl sie vor zwei Jahren eine Anpassung, die die damals schwarz-rote Bundesregierung per Rechtsverordnung umsetzte. Derzeit beträgt die Lohnuntergrenze 9,82 Euro brutto pro Stunde. Zum Juli soll sie zunächst auf 10,45 Euro steigen.
Doch insbesondere die Gewerkschaften halten den jetzigen Mindestlohn für zu gering, weshalb sie schon länger eine Anhebung auf zwölf Euro per Gesetz forderten. Denn im europäischen Vergleich ist der aktuelle Mindestlohn relativ gering. Unter den reicheren, westlichen EU-Ländern steht Deutschland damit an sechster und letzter Stelle. So beträgt der Mindestlohn in den Niederlanden 10,58 Euro, in Frankreich 10,57 Euro und in Irland 10,50 Euro.
Vor allem nähert sich der Mindestlohn mit der Anhebung auf zwölf Euro der Schwelle von 60 Prozent des mittleren Lohns an. Dieser Wert ist wichtig, da er in der Forschung als unterstes Maß für armutsfeste Löhne gilt. Dabei ist der mittlere Lohn genau jener Betrag, bei dem die eine Hälfte der Gesellschaft mehr, die andere weniger verdient. Wer weniger als 60 Prozent dieses mittleren Lohns zur Verfügung hat, gilt demnach als arm.
»Der höhere Mindestlohn stabilisiert die Einkommen am untersten Rand der Einkommensverteilung. Davon werden sehr stark auch Frauen profitieren«, kommentiert die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, Bettina Kohlrausch, die geplante Anhebung. »Angesichts der hohen Teuerung ist es zentral, dass die Einkommen von Menschen mit niedrigen Verdiensten gestärkt werden«, fügt ihr Kollege vom ebenfalls zur Hans-Böckler-Stiftung gehörenden Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien, hinzu.
Auch andere Ökonom*innen heben die Bedeutung der Mindestlohnanhebung angesichts einer Inflationsrate von 7,9 Prozent hervor, wie sie das Statistische Bundesamt am Montag für Mai bekanntgab. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, nannte die Anhebung zum Beispiel »das wichtigste Instrument« für die Beschäftigten im Niedriglohnbereich, »auch um sich gegen die steigenden Preise zu schützen«.
So profitieren laut einer Studie des IMK von der Mindestlohnanhebung unmittelbar rund acht Millionen Beschäftigte. Zusätzlich dürfte die Maßnahme auf andere Beschäftigte ausstrahlen, die knapp über zwölf Euro die Stunde verdienen. Und dabei sind es vor allem Menschen mit einem geringen Einkommen, die von den derzeit hohen Inflationsraten besonders betroffen sind, wie eine weitere Studie zeigt, für die das WSI 5164 Beschäftigte befragen ließ.
Demnach berichtete ein Fünftel der befragten Arbeitnehmer*innen, die weniger als 2300 Euro brutto im Monat verdienen, über »große finanzielle Schwierigkeiten« in Folge der höheren Kosten für Heizenergie, Motorkraftstoffe und Strom. Zusätzlich gaben in Abhängigkeit vom Energieträger jeweils 42 bis 50 Prozent an, auf andere Dinge verzichten zu müssen, um ihre Energierechnungen bezahlen zu können. Zum Vergleich: Rund die Hälfte der Beschäftigten mit einem Einkommen von über 4000 Euro berichtete, dass sie sich die steigenden Kosten für Energie aufgrund ihres Einkommens bislang »ganz gut leisten« könne.
Für Kohlrausch und Dullien ist die Mindestlohnanhebung im Kampf gegen die Inflation allerdings kein Allheilmittel: »Um soziale Härten zu vermeiden, sollte die Bundesregierung in Betracht ziehen, weitere Einmalzahlungen für Haushalte mit geringeren Einkommen auf den Weg zu bringen«, sagt Dullien. »Die Erhöhung auf zwölf Euro ist ein wichtiger Schritt – allerdings nur ein Baustein zur Schaffung eines gerechten Lohngefüges. Mindestens ebenso wichtig ist eine Stärkung der Tariflöhne«, betont Kohlrausch.
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