- Kultur
- »Der Mann mit den Facettenaugen«
Märchenhafter Müll
Wu Ming-Yis Roman »Der Mann mit den Facettenaugen« erzählt von einer riesigen Müllwelle, die das Leben der Figuren komplett durcheinanderbringt. Weit hergeholt ist dieses Szenario nicht
Im Pazifik gibt es einen großen Müllstrudel. Insgesamt handelt es sich um eine Fläche, die etwa viereinhalbmal so groß ist wie Deutschland. Dort haben sich zum Teil jahrzehntealte Müllreste – vor allem Plastik – zu einer Art Teppich zusammengeschoben. Teile davon drifteten in den vergangenen Jahren auch immer wieder auf die taiwanesische Küste zu.
Nun gelten China und Taiwan nicht gerade als Vorreiter in Sachen Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Umso interessanter ist es, dass der taiwanesische Schriftsteller Wu Ming-Yi mit »Der Mann mit den Facettenaugen« einen fantastisch angehauchten Öko-Roman geschrieben hat. Wu erzählt von einer Gruppe von Menschen, die an der taiwanesischen Küste leben, als diese plötzlich von einer gigantischen Müllwelle aus dem Ozean überschwemmt wird. Der Alltag der illustren Küstenbewohner wird durch dieses Ereignis komplett über den Haufen geworfen.
Als der Abfall, der im Roman eine Art schwimmende und sogar von einer Person bewohnte Insel bildet, auf Land trifft, setzt das eine enorme Zerstörungskraft frei. Flora und Fauna der Region werden vergiftet. Die Han-Chinesin Alice, die im Zentrum des von Wu entworfenen kleinstädtischen Figurenkosmos steht, lebt in einem Haus direkt an der Küste, das schon vor der spektakulären Müllkatastrophe langsam wegen des steigenden Meeresspiegels vom Wasser verschluckt zu werden drohte. In unmittelbarer Nähe steht die kleine Garküche von Hafay, ein sozialer Knotenpunkt, wo ortsübliche Gerichte mit viel Gemüse zubereitet und ein in der Gegend legendärer Kaffee gebraut werden. Hafay gehört zur indigenen Bevölkerungsgruppe der Amis. Befreundet mit den beiden ist Daho, der jahrelang mit Alice mittlerweile verstorbenem, aus Dänemark stammendem Mann Thom als Bergsteiger in Taiwan unterwegs war. Daho wiederum gehört der indigenen Gruppe der Bunun an.
Wu schildert die kulturellen Eigenheiten dieser unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen anhand seiner Romanfiguren, er webt ihre Traditionen und wie sie sich im Lauf der Jahre verändert und angepasst haben, in seine Erzählung ein. Der Roman enthält ganze Familien- und Dorfgeschichten der taiwanesischen Provinz. Aber es geht auch weit hinaus auf den Pazifik zu der kleinen, von der modernen Welt abgeschiedenen Insel Wayowayo. Von dort kommt Atile’i, der traditionsgemäß als Zweitgeborener auf dem Meer ausgesetzt wurde und für den die Müllfläche deshalb ein rettendes Eiland wird. Er richtet sich dort ein und wird mit der Strömung langsam Richtung Taiwan getrieben, wo er während der Überschwemmung auf Alice trifft. Die beiden so unterschiedlichen Menschen helfen einander, freunden sich an, und schließlich begleitet Atile’i Alice, um ihren in den Bergen verschollenen Sohn zu suchen. Dort begegnet den beiden der titelgebende »Mann mit den Facettenaugen«, eine geheimnisvolle mythische Figur.
Der 1971 geborene Wu unterrichtet Literatur und Kreatives Schreiben an der Dong-Hwa-Nationaluniversität an der taiwanesischen Westküste. Obwohl er zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren Taiwans zählt, ist »Der Mann mit den Facettenaugen« sein erstes Buch, das auch auf Deutsch übersetzt wurde. Neben seiner literarischen Arbeit, die mittlerweile ein halbes Dutzend Romane und eine Reihe Erzählungen umfasst, engagiert sich Wu als Umweltschützer und hat beim Aufbau umweltpolitischer Organisationen mitgearbeitet.
Wus umweltpolitisches Interesse findet sich in der Motivik des Buches wieder – es geht um die Zerstörung der Natur, große Baumaßnahmen in den Bergen, die Überfischung der Ozeane, das Sterben von Walen und Robben sowie eine Vielzahl von Überschwemmungen. Diese Ereignisse sind einschneidend in den unterschiedlichen Biografien seiner Protagonisten. Durch die Müllkatastrophe werden ihre märchenhaft anmutenden Geschichten miteinander verknüpft – mit einem so überraschenden wie brutalen Ende.
Wu Ming-Yi: »Der Mann mit den Facettenaugen«, Matthes & Seitz, 317 S., geb., 25 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.