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Irrfahrt in den Kontrollverlust

Wie kann der Ausweg aus dem Ukraine-Krieg aussehen? Ein fortgesetzter Dialog

  • Jürgen Angelow, Burkhardt Otto
  • Lesedauer: 8 Min.

Burkhard Otto: »Sie haben versucht, ihn zu bezirzen, zu überreden, zu ignorieren oder anzuerkennen, dass man anderer Meinung ist, doch seine Böswilligkeit ist grenzenlos – die einzige Alternative für europäische Regierungen ist Widerstand.« – Natürlich wissen wir, wer gemeint ist. Wir sind doch strategisch orientiert und treffen die richtigen Entscheidungen. Wir lassen uns von Gewissheiten leiten – und tappen doch ins Ungewisse. Der Kommentar des amerikanischen Ökonomen Jeffrey D. Sachs (Der Standard, 24.08.2019) bezog sich nicht auf Putin, sondern auf den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump.

Jürgen Angelow: Unsere mediengesteuerte Erinnerung ist so kurz, dass uns entgangen ist, dass damals ein Handelskrieg mit den USA herrschte, dass sich Trump aus dem Klimaschutz, der WHO und vielen anderen Welt(friedens)Organisationen zurückgezogen und nebenbei gleich noch die atomaren Begrenzungsprogramme mit Russland gekündigt oder nicht verlängert hatte.

B.O.: Und doch sind die USA im jetzigen UkraineKrieg unsere unverzichtbare Rückversicherung. Sie ermöglichen es uns, ganz unbeschwert die Grenzen des Atomkriegsrisikos auszuloten. Denn die Gefahr geht für unsere Politiker nicht von der Atomwaffe aus, sondern von der Angst vor der Atomwaffe. Deshalb kann man mutig sein und den Gegner weiter attackieren, es wird schon nicht zum Schlimmsten kommen.

J.A.: Sind wir Zocker? Einerseits wird gerätselt, ob Putin noch bei Sinnen ist oder schon »außer Kontrolle«; amerikanische Geheimdienste sammeln darüber Informationen. Andererseits traut man ihm gerade in dieser existenziellen Frage Rationalität zu. Die Warnung vor der Unberechenbarkeit der nuklearen Drohung ist doch wohl angebracht, das ist keine Putin-Propaganda. Was haben wir eigentlich noch unter Kontrolle?

B.O.: Wir haben nur wenig Kontrolle. Unser Blick auf den Krieg hat sich weiter verengt. Einen Perspektivenwechsel raus aus der Eskalationslogik kann ich nicht erkennen. Im Gegenteil: Kriegsrhetorik zieht uns in den Abwärtsstrudel. Kritische Stimmen, die wie Alexander Kluge, Alice Schwarzer und Martin Walser zur Vorsicht mahnen, sind plötzlich »vulgärpazifistisch« (Robert Habeck) und werden als Aufforderung zur Unterwerfung absichtlich missverstanden. Die vom Grünen-Politiker Ralf Fücks und anderen vertretene Gegenposition will Russland militärisch maximal schwächen und die atomare Eskalation durch »glaubwürdige Abschreckung« bannen!

J.A.: Was für ein Leichtsinn! In den Medien erleben wir die Stunde der orakelnden »Spezialisten« und Lobbyisten. Süchtig nach öffentlicher Aufmerksamkeit, zieht es Politikerinnen und Politiker nach Kiew. Kriegerische Amazonen mit Sendungsbewusstsein, wie Jeanne d’Arc im Hundertjährigen Krieg, pochen auf westlich-demokratische Werte und durchgreifende Lösungen, rigoros und medienwirksam.

B.O.: Das ist feministischer Bellizismus. Jeanne d’Arc in voller Rüstung!

J.A.: Risiken werden ausgeblendet. Die Ukraine will den Sieg! Vom Westen fordert sie blinde Gefolgschaft. Sie verteilt Noten an deutsche Politiker und interpretiert Abwägung als Zaudern.

B.O.: Aber Deutschland muss globale Verantwortung tragen, eine Europa umfassende Perspektive einnehmen, in längeren Zeiträumen denken. Wir sehen verstörende Bilder im Fernsehen: tote Zivilisten in Butscha, die Zerstörungen in Mariupol. Die Lage kippt. Die Koalition ringt um eine einheitliche Linie. Waffenlieferungen und Maßnahmen des Wirtschaftskrieges werden intensiviert. Und das geht zu Lasten der ostdeutschen Wirtschaft. Was ist mit den Arbeitsplätzen in Schwedt und Leuna, was mit Ausgangsstoffen für die chemische Industrie?

J.A.: Was passiert eigentlich, wenn Russland den Zeitplan des EU-Ölembargos mit seinen Übergangsfristen schlichtweg ignoriert, wie jemand, der nicht zu seinem Hinrichtungstermin erscheint? Oder wenn es gleich auch noch das Gas abdreht? Wir haben das doch gar nicht in der Hand. Die Eskalationsspirale dreht sich munter weiter. Wohin wird das führen, in den Atomkrieg?

B.O.: Das ist immer noch ein realistisches Szenario! Der Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine ist für Moskau als Ultima Ratio der Gesichtswahrung vorstellbar, in der russischen Militärdoktrin verankert und auch militärisch-praktisch vorbereitet, ungeachtet aller Dementis und Spekulationen. Die CIA hält einen Atomschlag für wahrscheinlich. Moskau entscheidet, wann der Westen die »rote Linie« überschritten hat, die diesen Einsatz als »Selbstverteidigung« rechtfertigt.

J.A.: Auch hier gibt es keine Kontrolle! Aber der Einsatz wird trotzdem erhöht: durch die Aufnahme weiterer Nato-Mitglieder, die Steigerung des Wirtschaftskrieges, die Lieferung schwerer Waffen und Geheimdienstinformationen sowie die Ausbildung ukrainischer Militärangehöriger durch die Nato. Falls sich Moskau existenziell bedroht sieht und den roten Knopf drückt, was dann?

B.O.: Dann werden die USA nicht atomar eingreifen. Frankreich und das Vereinigte Königreich reagieren nur bei einem Angriff auf das eigene Territorium. Das ist die Stunde der Wahrheit für Rest-Europa. Das wäre ein Rückzug auf ganzer Linie! Auf die Opfer, Zerstörungen und Verseuchungen folgt der politische Offenbarungseid. Denn es gibt für diesen Fall nur Verachtung, keine »glaubhafte Abschreckung« oder angemessene Sanktion.

J.A.: An »glaubhafte Abschreckung« zu glauben, ist eine Irrfahrt in den Kontrollverlust. Wir müssen die Initiative gewinnen. Die Eskalation muss gestoppt werden: Wir brauchen einen Waffenstillstand, der den Status quo einfriert, westliche Waffenlieferungen, militärischen Hilfe und Sanktionen aussetzt und ein umfassendes Verhandlungsangebot an Russland einschließt.

B.O.: Im Raum stehen Vorwürfe beider Kriegführenden, die jeweils andere Seite würde gar nicht substanziell verhandeln wollen. Das lässt sich durch eine Teilnahme der EU auflösen. Bilateral kommt man nicht weit, die Positionen sind festgefahren. Jede Seite hofft auf einen militärischen Vorteil, auf das Festhalten eroberter Gebiete oder deren Rückeroberung. Da aber die EU einen Wirtschaftskrieg führt, muss auch sie ihren Beitrag zur Lösung leisten.

J.A.: Der EU-Wirtschaftskrieg will den Preis für Russland hochschrauben, um Wiederholungstäter zu warnen. Aber seine Kosten-Nutzen-Relation leuchtet nicht ein.

B.O.: Sanktionen, die nicht auf Wirkung, sondern auf Haltung berechnet sind, die einem selbst mehr schaden als dem Gegner, sind paranoid.

J.A.: Wirtschaftskriege kennen keine Sieger. Die von Russland geforderte Nato-Abstinenz der Ukraine ist akzeptiert. Das hätte auch ohne Krieg zugestanden werden können. Wir müssen jetzt raus aus der Eskalation! Eine Beteiligung der EU an Waffenstillstandsverhandlungen ist nicht nur logisch, sondern auch angezeigt. Die fortgesetzte Emotionalisierung bringt uns nicht weiter.

B.O.: Wie immer zu Beginn großer Kriege lässt die moralische Überlegenheit der eigenen Sache keine Selbstzweifel zu. Wenn die deutsche Außenministerin den Rückzug Russlands aus der gesamten Ukraine verlangt und das Land so schwächen will, dass es keinen Krieg mehr vom Zaun brechen kann, erinnert das sehr an die alliierten Kriegsziele gegen Nazideutschland. Doch sie hat auch das nicht in der Hand. Russland ist eine Atommacht, das sollte nicht vergessen werden. Kriege mit Atommächten können nicht mehr im traditionellen Sinne »gewonnen« werden (Jürgen Habermas). Auch gutmeinende, engagierte Friedenssuchende verzweifeln langsam an der sturen Rigidität der Völker- und Menschenrechtsverfechter.

J.A.: Zwischen öffentlicher Meinungsproduktion und militärpolitischer Rationalität tut sich eine Leerstelle auf, die durch moralische Evidenz überbrückt wird, Irrtümer eingeschlossen. Jürgen Habermas spricht von einem »moralischen Tunnelblick auf den Krieg«. Verhandlungsbereitschaft wird als Schwäche, als Unterwerfung fehlgedeutet.

B.O.: Stichwort Rigidität: Auch zurückliegende Entscheidungen werden jetzt eifrig auf Fehler gescannt. Es gilt, »Russland-Freunde« zu entlarven und zur Rechtfertigung zu zwingen. Ein wenig Inquisition im 21. Jahrhundert gefällig? Gerhard Schröder, Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Manuela Schwesig sitzen schon auf der Anklagebank.

J.A.: Diese Skandalisierungen versprechen einen starken »Auftritt«. Doch was, wenn die Überprüfung von Normen, die damit einhergeht, zeigt, dass die Hoffnung auf eine stabile Vorteilsbeziehung zwischen Russland und Europa begründet war? Es ist bizarr, Politiker im Nachhinein für etwas anzuklagen, was sie gar nicht voraussehen konnten. Gibt es denn für Deutschland langfristig eine vernünftige Alternative zur wirtschaftlichen Verflechtung mit Russland? Wie überheblich ist es, abweichende Deutungen schlechtzureden, begründete Gegenpositionen nicht zu prüfen und sich zu weigern, die eigene Sicht zu qualifizieren.

B.O.: Nehmen wir an, wir kommen aus der Sache raus: Wie sieht sie aus, die »schöne neue Welt«? Der Rückzug der USA aus der militärischen Verantwortung für Europa wurde unter Präsident Trump eingeleitet. Der Blick Washingtons ist auf den pazifischen Raum gerichtet, insbesondere auf China. Die grüne Außenministerin und die deutschen Atlantik-Lobbyisten spielen dem erfolgreich in die Hände.

J.A.: Russland wird absehbar geschwächt, die Rüstungsindustrie boomt und die EU nagt schwer an ihren Sanktionen. Die USA liefern klimaschädliches Fracking-Gas, bestimmen das Energiepreisniveau und zwingen Europa zur Abnahme amerikanischer Rüstungsgüter. So nähern sich die USA unablässig ihrem geopolitischen Ziel: Europa wird als wirtschaftlicher Konkurrent geschwächt und Russland auf die Rolle einer Regionalmacht verwiesen.

B.O.: Gleichzeitig bereitet sich Washington auf die bipolare Konkurrenz mit China vor. Nach einer Anstandsfrist wird die Volksrepublik dann Taiwan annektieren und – gestützt auf befestigte Inseln im chinesischen Meer – die regionale Expansion in Richtung Australien vorantreiben. Die USA schließen den südostasiatisch-pazifischen Raum bereits militär-industriell ab. Großbritannien assistiert und liefert Australien die benötigten Atom-U-Boote.

J.A.: Vor dem Hintergrund der Weltlage ist der Krieg in der Ukraine eine Riesenverlegenheit. Wir müssen den Kontrollverlust überwinden und die Dinge in die Hand nehmen. Wenn Europa seine Einheit in Vielfalt stärken will, braucht es die Ukraine. Wenn es seine wirtschaftliche Bedeutung sichern will, muss es den eurasischen Verflechtungsraum mitdenken. Das geht nicht ohne Russland.

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