Woke einmal im Jahr

Nicht nur Comedians, sondern jeder Erwachsene hat eine politische Verantwortung, meint Sibel Schick. Diese steige, je mehr Einfluss jemand hat.

  • Sibel Schick
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist endlich wieder der heiligste Monat des Jahres: Juni ist der Pride-Monat. Auch dieses Jahr färben Unternehmen ihre Logos bunt, hissen Regenbogenfahnen, bringen Rainbow-Collections heraus. Alle wollen woke sein, aber nur einmal im Jahr.

Eins dieser Unternehmen ist Netflix. Allerdings beansprucht der Streaming-Dienst das gesamte Jahr über für sich, super-hyper-solidarisch zu sein. Durch neue Serienproduktionen wie »Heartstopper« über queere Jugendliche könnte sich dieser Eindruck tatsächlich verfestigen. Aber queere Inhalte alleine können nicht für eine sichere Umgebung sorgen, Netflix ist ein queerfeindliches Mienenfeld.

Sibel Schick
Sibel Schick ist Autorin und Journalistin. Sie wurde 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschland. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellschaft«. Darin schreibt Schick gegen das Patriarchat und den Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft an. Alle Texte unter dasnd.de/gesellschaft.

Nur eine Woche vor dem Pride-Month veröffentlichte Netflix ein neues Comedy-Special von Ricky Gervais. Gleich zu Beginn seiner Show legt Gervais los, sich über trans Frauen lustig zu machen: »Diese neuen Frauen ohne Uterus, mit Bart und Schwanz – ich bin Fan von ihnen!«, sagt er. Als eine Frau ohne Uterus und mit Bart möchte ich anmerken: Comedian ist kein Synonym für Arschloch.

Gervais reproduziert in seinem Programm die Diffamierung, trans Frauen seien in Wahrheit Vergewaltiger, die in Frauenklos eindringen möchten, und zieht währenddessen die Verwendung von richtigen Pronomen für trans Menschen ins Lächerliche. Immer wieder kehrt er zurück zum Thema, kein Vorurteil wird ausgespart: Trans Personen erklärt er zu einem gewalttätigen Mob und gleichzeitig zu übersensiblen Schneeflöckchen. Er merkt an, dass Wörter nicht gewalttätig seien und seine Diffamierungen keine realen Folgen für Betroffene haben könnten – während ein US-Bundesstaat nach dem anderen trans Menschen und ihre Familien kriminalisiert. 2020 bekam Gervais für ein anderes Netflix-Special laut eigener Aussage 40 Millionen US-Dollar.

So profitabel ist Transfeindlichkeit für alte weiße heterosexuelle und cisgeschlechtliche Männer: Du stehst auf der Bühne, plapperst der britischen Autorin J.K. Rowling, dem »Emma«-Magazin oder einfach rechten Trollen im Netz nach und bekommst dafür so viel Geld, dass du nie wieder arbeiten müsstest.

Man könnte jetzt argumentieren, dass man Netflix keine Transfeindlichkeit vorwerfen könnte, nur weil Gervais einmal auf deren Plattform ekliges Zeug verbreiten durfte. Der Streamingdienst hatte allerdings bereits vergangenes Jahr nach dem Skandal um Dave Chappelle, der sich in seinem Bühnenprogramm über die Genitalien von trans Frauen lustig gemacht hatte, einiges lernen und dieselben Fehler vermeiden können – vorausgesetzt, es war kein Kalkül, sondern wirklich ein Fehler. Allerdings hat Netflix scheinbar lieber kritische Angestellte gehen gelassen, als auf transfeindliche Inhalte zu verzichten. Glaubwürdig geht anders.

Comedy hat ein Problem, und das buchstabiert auch Gervais aus: In der Behauptung, seine »Witze« könnten keine Konsequenzen haben, verbirgt sich der Aberglaube, dass Comedy unpolitisch sei. Woran er das festmacht, verrät er nicht. Es ist davon auszugehen, dass es sich um sein persönliches Gefühl handelt. Aber Worte haben sehr wohl reale Konsequenzen – beispielsweise sein »Witz« über Frauenklos. Viele trans Personen berichten von Angriffen auf öffentlichen Toiletten, Ursache ist womöglich die weitverbreitete Dämonisierung, die auch Gervais für einen billigen Gag reproduziert.

Die Behauptung, dass Comedy unpolitisch sei, wird auch in Deutschland wiederholt. So sagt der Comedian Shahak Shapira vergangenes Jahr in einer Sendung von »Titel Thesen Temperamente« nach dem Dave-Chappelle-Debakel sichtbar aufgebracht: »Ich hasse das. Warum politically correct? Geh zu Politikern, sieh zu, dass sie korrekt sind, bevor du mit den Comedians anfängst.«

Ein Mensch mit Plattform und Reichweite kann natürlich behaupten, keinerlei politische Verantwortung zu tragen, weil diese angeblich nur Politiker*innen hätten. Das aber heißt längst nicht, dass es stimmt. Selbst Privatpersonen ohne mediale Sichtbarkeit tragen eine politische Verantwortung. Diese wächst, je einflussreicher ein Mensch ist. Vielleicht haben manche einfach null Bock, sich mit der eigenen Rolle in Unterdrückungssystemen auseinander zu setzen, dass sie sie lieber verleugnen.

Gleichzeitig will Comedy gesellschaftskritisch sein. Während dieselben Comedians aktiv an der Diskriminierung von ohnehin marginalisierten Gruppen teilnehmen, indem sie vor Millionen eins zu eins dämonisierende Sprüche reproduzieren. Auch hier gilt: Glaubwürdig geht anders.

Fehler passieren. Wichtig ist, diese einzuräumen und sich weiterzuentwickeln – das gilt sowohl für Einzelpersonen als auch für Unternehmen. Nicht nur im Juni, sondern immer.

Happy Pride!

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