Faschismusvergleiche

Wird Russland tatsächlich zum faschistischen Staat oder ist es gar schon? Das treibt auch linke Beobachter*innen der innenpolitischen Entwicklungen nicht erst seit Beginn des Ukraine-Kriegs um. Eine Annäherung

  • Mathias Wörsching
  • Lesedauer: 6 Min.
Hier geht es nicht um Gesellschaftskritik, sondern um Nationalismus: Äußerung auf einer "Antikriegsdemo" im Mai 2022 in München
Hier geht es nicht um Gesellschaftskritik, sondern um Nationalismus: Äußerung auf einer "Antikriegsdemo" im Mai 2022 in München

Nein, Wladimir Putin ist kein neuer Hitler und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine steht bisher nicht auf einer Stufe mit dem rassistischen Vernichtungskrieg, den Nazideutschland von 1941 bis 1945 gegen die Sowjetunion führte. Nicht um propagandistische Gleichsetzung geht es im folgenden Beitrag, sondern um Faschismusforschung, die systematisch mit dem internationalen und epochenübergreifenden Vergleich arbeitet. Eine fundierte Antwort auf die Frage, ob wir es bei Putin mittlerweile mit einem faschistischen Führer zu tun haben, erfordert tiefere Kenntnisse Russlands, als ich vorweisen kann. Daher werde ich lediglich auf einige Punkte hinweisen, die aus faschismustheoretischer Sicht vor einer Antwort geklärt werden müssten.

Es besteht kein Zweifel mehr daran, dass Putins Regime autoritär und nationalistisch ist, dass es große Teile der russischen extremen Rechten aktiv und auch (para-)militärisch einbindet und dass es sich einen mindestens radikal konservativen, wenn nicht faschistischen ideologischen Überbau gegeben hat. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf den Einfluss der ultrarechten Ideologen Iwan Iljin (1883-1954) und Alexander Dugin (geb. 1962) verwiesen. Nun war allerdings die Abgrenzung des Faschismus innerhalb des nationalistischen Spektrums sowie gegenüber Konservatismus und Autoritarismus immer eine Hauptschwierigkeit der Faschismustheorie. Diese Abgrenzung gelingt meistens nicht sauber, weil es fließende Übergänge, dynamische Entwicklungen – konservativ-autoritäre Bewegungen und Regime können sich zu faschistischen radikalisieren, letztere sich aber zu ersteren auch wieder zurückbilden – und deswegen eine Menge Grenzfälle gibt. Noch dazu stehen viele verschiedene Faschismusdefinitionen und -theorien zur Auswahl. Festzuhalten ist: Je weiter der Begriff des Faschismus gefasst wird, desto eher lässt sich ihm Putins Regime zurechnen.

Ideologische Gemeinsamkeiten

Unscharf bleibt besonders die Ebene der Ideologie. Gewiss tauchen in der Rhetorik Putins und ihm nahestehender Quellen zahlreiche aus dem Faschismus bekannte Elemente auf. Dazu gehören die Beschwörung vergangener imperialer Größe und der Traum von deren Wiederherstellung, die Klage um verlorenes Land und der Drang zu dessen gewaltsamer Rückgewinnung, die Opfererzählung von finsteren, das »eigene« Land und Volk mit Vernichtung bedrohenden äußeren Mächten, die Angst vor der Vergiftung durch vermeintlich fremde und schwächende Einflüsse wie Feminismus, sexuelle Vielfalt und Liberalismus.

Doch die genannten Ideologeme sind auch Gemeingut im Spektrum des Nationalismus, Autoritarismus und Konservatismus. Eine trennscharfe Bestimmung faschistischer Ideologie lässt sich aus ihnen nicht gewinnen. Allenfalls von ideologischer Nähe oder Überschneidung zum Faschismus wäre zu sprechen. Als echte faschistische Besonderheit gilt dem britischen Historiker Roger Griffin und mit ihm vielen heutigen Faschismusforscher*innen hingegen der »populistische, palingenetische Ultranationalismus«. Dieser extrem gewalttätige Typ des Nationalismus wird meines Erachtens am reinsten von Strömungen vertreten, die sich selbst als nationalrevolutionär und nationalsozialistisch beschreiben und die klassischerweise einen »Dritten Weg« als gesellschaftliche Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus propagieren.

Diesem Typ Nationalismus geht es um die gewaltsame Neuerschaffung oder Wiedergeburt (»Palingenese«) der Nation nach einer Zeit des Verfalls und Niedergangs. Die angeblich wiedergeborene Nation soll geschlossen, homogen und kampfstark sein und »neuen«, nämlich militärisch-heroischen Werten und »neuen«, nämlich faschistischen Eliten folgen. Der Weg zur »Volksgemeinschaft«, wie die Nazis dieses Ideal nannten, führt über Diktatur, Umerziehung der Bevölkerung (insbesondere der Jugend), die Ausmerzung innerer Feinde (zumeist ethnisch-kulturell-religiöser wie politisch-oppositioneller Minderheiten) und die Konstruktion und Zerschlagung äußerer Feinde. Angestrebt wird eine alternative, das heißt radikal anti-emanzipatorische und anti-liberale Moderne, die auch als Gegen-Moderne bezeichnet werden kann. Dabei versteht sich der Faschismus als anti-elitäre, populistische – das heißt vor allem: klassenübergreifende – Protestbewegung gegen die jeweiligen bürgerlichen Führungsgruppen in Politik und Gesellschaft.

Nun passen viele dieser Merkmale nicht auf die Situation in Russland. Etwa gelangte Putin aus dem Staatsapparat an die Macht und nicht als Führer einer ultranationalistischen Protestbewegung. Zu klären wäre allerdings, ob der ideologische Überbau des Putin-Regimes und sein Herrschaftsprogramm mehr dem Feld des Faschismus oder dem des Konservatismus angehören.

Repression und Massenbasis

Auch Herrschaftssystem und Herrschaftsmethoden lassen sich vergleichend auf faschistische Merkmale hin analysieren. Marxistische Theoretiker*innen wie Reinhard Kühnl bestimmten den Faschismus an der Staatsmacht als terroristische Diktatur im Kapitalinteresse, die sich auf eine kontinuierliche und organisierte Massenmobilisierung stützt. Wichtig ist hier, dass der Faschismus selbst keine Produktionsweise ist, sondern eine besonders unmenschliche Organisationsform des Kapitalismus.

»Diktatur im Kapitalinteresse« – hinter diese marxistische Faschismusbestimmung können wir jedenfalls getrost ein Häkchen setzen, denn von Putins Herrschaft profitiert vor allem eine kleine Schicht Superreicher. Aber ist die Herrschaft Putins auch eine »terroristische« Diktatur? »Terroristische« Diktatur bedeutet, dass keinerlei legale Möglichkeit der Opposition mehr besteht, dass jeglicher Versuch oppositioneller Politik gewaltsam zerschlagen wird. Das muss nicht unbedingt aussehen wie im historischen totalitären Einparteien- und Führerstaat des 20. Jahrhunderts. Alternative Faschismus-Varianten mit systemkonformer Pseudo-Opposition sind denkbar, und hier ist in Bezug auf Russland klar: Der Spielraum oppositioneller Kräfte in Russland verringert sich stetig, nicht erst seit der Invasion der Ukraine im Februar 2022, sondern schon seit vielen Jahren. Mittlerweile kann wohl von einer Opposition kaum mehr die Rede sein.

Und wie steht es in Russland mit einer »kontinuierlichen, organisierten Massenmobilisierung«? Das Vorhandensein einer – bis zu einem gewissen Grad autonom agierenden – Massenbasis machte für Kühnl, aber auch für den unorthodoxen Faschismusforscher Wolfgang Wippermann das zentrale Sondermerkmal faschistischer Herrschaft aus. Denn erst die breite Unterstützung durch die Bevölkerung verleiht dem faschistischen Staatsterror die Reichweite und Durchschlagskraft, die ihn zur furchtbarsten bisher bekannten Form staatlicher Herrschaft im Kapitalismus macht. Wie jedes halbwegs stabile Regime verfügt auch dasjenige Putins über massenhaften Rückhalt in der Bevölkerung, und wie viele autoritäre Herrscher versucht auch Putin, diesen Rückhalt mit Maßnahmen »von oben« noch zu verbreitern und seine Unterstützer*innen hin und wieder demonstrativ zu aktivieren. Aber existiert unter Putin wirklich eine Massenbewegung mit eigener Organisation und ideologischer Agenda ähnlich dem faschistischen Italien und Nazideutschland? Eine solche Bewegung könnte unterhalb der Führung als Machtfaktor auftreten, eigene ideologische Akzente setzen und somit eskalierend und radikalisierend auf die Herrschaftspraxis des Regimes wirken. Relevant ist dabei auch, ob es spezielle, nur dem Führer verpflichtete und von seiner Ideologie beseelte Gewaltorganisationen gibt, ähnlich Mussolinis »Schwarzhemden« oder der SA und SS unter Hitler.

Mindestens die hier aufgeworfenen Fragen müssten eindeutig geklärt werden, um einschätzen zu können, ob in Russland bereits Faschismus herrscht oder sich der Putinsche Autoritarismus derzeit in Richtung Faschismus radikalisiert – in Form einer »Faschisierung von oben«, wie es der Politikwissenschaftler Greg Yudin schreibt. Doch auch unabhängig von der Faschismusfrage kann schon einmal festgehalten werden: Das Regime Wladimir Putins trägt einen extrem repressiven und aggressiven Charakter, und Diktatur, Krieg und Massenmord kann es auch geben, ohne dass die theoretischen Kriterien für Faschismus erfüllt sind. Allein das 20. Jahrhundert kennt viele Beispiele dafür.

Mathias Wörsching betreibt die Internetseite faschismustheorie.de und hat 2020 unter Mitarbeit von ​Fabian Kunow das Buch »Faschismustheorien. Überblick und Einführung« in der Reihe theorie.org des Schmetterling Verlags veröffentlicht.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.