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Mit dem Bären-Ticket auf den Fichtelberg

Eine West-Ost-West-Reise für 9 Euro

Kein Einstieg möglich. Leinefelde am Montagnachmittag.
Kein Einstieg möglich. Leinefelde am Montagnachmittag.

Der Tag, an dem die Tour mit dem 9-Euro-Ticket losgeht, beginnt mit dem Blick aufs Telefon. Gibt es auf der geplanten Strecke schon Verspätungen oder Zugausfälle? Nein, alles sieht gut aus. Eisenach soll am Abend der erste lange Aufenthalt sein.

Fünf Tipps für lange Reisen mit dem 9-Euro-Ticket

1. Bei jeder Fahrt sollte ein Puffer eingebaut sein. Auf die letzte Verbindung ans Ziel zu setzen ist riskant. Verpasste Umstiege, Zugausfälle und Überfüllung führen schnell dazu, dass die letzte Bahn weg ist.

2. Wenn man es einrichten kann, sollte man vom Startbahnhof eines Zuges losfahren. Dann sind die Chancen, einen Sitzplatz zu bekommen, groß. Dafür kann sich auch ein kleiner Umweg lohnen. An Zwischenhalten einzusteigen, ist auf beliebten Strecken schwierig bis unmöglich.

3. Rucksack statt Rollkoffer: Viele Regionalzüge sind auf sperriges Gepäck nicht ausgelegt. Außerdem kommt man mit einem Rucksack auch im Gedränge besser voran.

4. An Wochenenden bleibt das Fahrrad besser zu Hause. Sonst ist es Glückssache, ob man einen Platz in der Bahn ergattert. An vielen Orten sind die Angebote für Leihräder günstig.

5. Die Unterhaltung gut vorbereiten. Filme oder Podcast besser gemütlich zu Hause runterladen. Internet in der Bahn ist Glückssache. Ein gutes Buch oder das "nd" helfen auch.

Am Startbahnhof in Wuppertal ist an diesem Freitag alles wie immer. Das Aufkommen der Reisenden ist nicht höher als sonst. Der erste Zug auf der Reise nach Görlitz ist halbvoll. Alle können eine Sitzreihe für sich beanspruchen. Zwei Minuten Verspätung sind kein Grund zur Sorge. Ab Schwerte ist es voll. Die Strecke ist beliebt für Junggesellenabschiede und bei Feiergruppen, die in die Urlaubsorte im Sauerland wollen. Eine Gruppe im Zug hat einen eigenen Lautsprecher dabei. Zwei Bundespolizisten versuchen mit gutem Zureden, die Party erträglich zu gestalten. Es gelingt ihnen halbwegs. In Kassel-Wilhelmshöhe angekommen, ist das Aussteigen das größte Problem. Der Bahnsteig ist rappelvoll.

Weiter in Richtung Bebra geht es mit Verspätung. Kein gutes Zeichen für den Umstieg nach Eisenach. Doch die Sorge ist unbegründet. Der Regionalzug in Bebra wartet auf die Reisenden aus Kassel. Aber alle haben das Gefühl, dass es schnell gehen muss. Die Menschen laufen durch die Unterführung und suchen sich schnell Plätze im neuen Zug. Die Eile wäre nicht nötig gewesen. Die Bahn nach Eisenach wartet auf einen weiteren Zug. Eine Pendlerin ist ziemlich genervt. Sie arbeitet in Bebra und lebt in Eisenach. Das 9-Euro-Ticket findet sie »gut und schön« und »echt billiger« als ihre normale Monatskarte. Aber auf regelmäßig überfüllte Züge hat sie keine Lust. Mal ein paar Minuten warten sei okay. Das und volle Züge kämen auf der Strecke auch mal vor, besonders wenn es aufs Wochenende zugehe. Aber wenn dauerhaft mehr Menschen Bahn fahren sollten, dann brauche es einfach mehr Züge. Eine höhere Taktung wäre für sie auch praktisch, Aufenthalte am Bahnhof in Bebra seien nicht sonderlich attraktiv, gerade wenn es nass und kalt ist. Gegen 18 Uhr ist Eisenach, das Etappenziel für diesen Tag erreicht. Einen Ausflug auf die Wartburg gibt es an diesem Abend nicht mehr. Der letzte Bus dorthin ist um 16.58 Uhr abgefahren.

Am nächsten Morgen geht es schon um 8 Uhr los. Viele Fahrradausflügler nutzen den Zug in Richtung Leipzig. Schnell kommt er an die Kapazitätsgrenze. In Erfurt finden nicht mehr alle, die am Bahnsteig warten, einen Platz in der Bahn. »Guck mal, die Schwarzen kommen nicht mehr mit«, sagt jemand aus einem kleinen Seniorengrüppchen und lacht. Der berüchtigte Ost-Rassismus? Nein. Es geht um ein paar Menschen, die so aussehen, als ob sie zum Leipziger Wave-Gothic-Treffen wollen. Die Senioren erzählen, dass sie sonst nicht mit der Bahn unterwegs sind. Bei dem 9-Euro-Angebot habe man aber nicht Nein sagen können. Das lohne sich ja schon für die eine Fahrt. Wo es hingeht? Nach Bad Kösen an der Saale. Ein bisschen »wandern und Wein trinken«. Die Rentner sind äußerst kommunikativ, fragen Menschen auf den Nebenplätzen, die zwei Hunde in einer Box und einer Tasche dabei haben, ob die sich darin wohlfühlen. Die Besitzerinnen antworten freundlich.

Hunde in Taschen und Boxen fallen als eine südostdeutsche Spezialität auf. Es gibt sie in fast jedem Zug zwischen Eisenach und Görlitz. In Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen ist das anders. Keine Maulkorbpflicht, keine Taschenpflicht. Hunde aller Größen und Rassen machen sich unter, auf oder neben den Sitzen breit. Möglicherweise haben die strengen Regeln für die Tiere etwas mit einer besonderen Ordnungsliebe bei den Bahnen im Osten zu tun. Es fällt auf, wie sehr auf Ordnung in der Bahn geachtet wird, von Reisenden wie auch vom Personal. Getränke und Essensverpackungen nehmen Reisende beim Ausstieg meist wieder mit. Als in einem Zug das Toilettenpapier aus ist, geht die Schaffnerin in den Führerstand und besorgt neues. Überhaupt sind die Zugbegleiterinnen auf der Reise eine Erwähnung wert. Eine schafft es, gleich zwei Menschen ohne Maske davon zu überzeugen, dass es doch sinnvoll ist, eine solche aufzusetzen. Für beide hat sie eine Maske in der Tasche. Eine andere verhindert, dass ein Kind bei einem Zwischenhalt, von der Mutter unbeobachtet, aus dem Zug steigt. Dieselbe Zugbegleiterin hat später ein Einsehen und verkauft zwei Menschen, die mit der Bahn-App nicht zurechtkommen, ein Neun-Euro-Ticket: »Ich darfs eigentlich nicht.« In einem anderen anderen Regionalzug gibt es ein Kinderabteil, und die Betreiberfirma legt Zeitungen aus, die am Nachmittag noch da und nicht völlig zerfleddert sind. Wer sonst in Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet unterwegs ist, wundert sich über so viel Engagement.

Ziemlich engagiert sind auch Sven Oettel und Stephanie Arnold von der Sächsischen Dampfeisenbahngesellschaft. Ihre mit einer Dampflok betriebene Fichtelbergbahn führt in Deutschlands höchstgelegene Stadt Oberwiesenthal. Mit sichtbarem Stolz führen sie durch die Werkstatt am dortigen Bahnhof. Oettel sagt, die Werkstatt sei eine »richtige Manufaktur«, Ersatzteile für die teilweise über 100 Jahre alten Schmalspurlokomotiven lassen sich nicht einfach so bestellen. Oettel, der seit 1984 Eisenbahner ist, blickt kritisch auf den Zustand der Bahn in Deutschland. Er sagt: »Jede Gesellschaft bekommt die Bahn, die sie verdient.« Als Beispiele nennt er Einsparungen, Streckenstilllegungen und die komplizierten Automaten. Wenn er privat mit der Bahn unterwegs sei, passiere es regelmäßig, dass er Menschen bei der Bedienung helfe. Das 9-Euro-Ticket sieht er zwiespältig. Eine dauerhafte Hilfe sei es nicht, aber »jeder Eisenbahner freut sich über gut gefüllte Züge«. Dem pflichtet seine Kollegin Arnold bei. Sie spricht über den erhöhten Beratungsbedarf. Man müsse prüfen, welche Fahrkarten alle als 9-Euro-Ticket gültig seien. Gerade erst habe es die Anfrage von einem Bären-Ticket-Besitzer gegeben. Da habe sie nachschauen müssen, was das ist: ein Nahverkehrsticket für Senioren aus dem Ruhrgebiet. Auch damit kommt man gerade nach Oberwiesenthal. Stephanie Arnold glaubt, dass sich der erhöhte Beratungsbedarf legt, wenn sich alle an das neue Ticket gewöhnt haben. Über das Pfingstwochenende sei die Bahn so voll gewesen wie üblich an langen Wochenenden.

Die letzte Etappe auf dem Weg nach Görlitz, zu Deutschlands östlichstem Bahnhof, verläuft unspektakulär. Was auffällt, sind die unterschiedlichen Züge, fast nie ist es zweimal hintereinander derselbe Betreiber. Auch das Alter und die Barrierefreiheit der Züge sind äußerst unterschiedlich. Mal sind es ältere Modelle mit schmalen Treppen. Darauf, dass solche Züge jetzt vermehrt zum Einsatz kommen könnten, hat die Rollstuhl fahrende Klimaaktivistin Cécile Lecomte schon vor Tagen auf Twitter hingewiesen. Für die Bahn-Vielfahrerin ist das 9-Euro-Ticket keine Entlastung. Man müsse nun »mühselig« herausfinden, ob auf einer Strecke Niederflurzüge eingesetzt werden. Das sei bei Regionalzügen bisher fast durchgängig der Fall gewesen. Jetzt sei sie im Zweifel auf den Mobilitätsservice der Bahn angewiesen. Der habe aber oft kein Personal. Die Folge: Menschen mit Behinderungen können nicht reisen. Auch überfüllte Züge erschwerten das. Lecomte ist für einen günstigen oder kostenfreien Bahnverkehr. Aber dafür müsse Geld in »die Infrastruktur gehen, in einen barrierefreien Ausbau«. Unrecht hat Cécile Lecomte wohl nicht. Auf der ganzen Reise quer durch Deutschland ist kein Mensch mit Rollstuhl zu sehen.

Warum das so ist, wird am Montag deutlich. Von Görlitz nach Wuppertal soll die Fahrt knapp elf Stunden dauern. Am Ende sind es sechzehn. Dabei fängt alles gut an, durch die Lausitz bis nach Halle geht es mit mehreren Regionalbahnen. Auf dem Weg freut sich ein Pärchen, das in Leipzig studiert, darüber, dass seine Semestertickets als 9-Euro-Tickets gelten. Die Reichweite des Semestertickets sei sonst »ziemlich bescheiden«. Man komme damit nicht mal bis nach Dresden oder Görlitz. Das spare jetzt schon Geld. Gespannt sind beide, ob sie eine Rückzahlung für den zu viel gezahlten Semesterbeitrag bekommen. Auch das Geld könnten sie »gut gebrauchen«.

Der Nahverkehrswahnsinn beginnt am Mittag in Halle. Der Zug nach Kassel ist schon zehn Minuten vor der Abfahrt komplett besetzt. Wer jetzt noch einsteigen will, muss sich in den Raum vor der Tür quetschen. Nach einigen Stopps spitzt sich die Situation in Sangerhausen zu. Hier stehen viele Menschen am Gleis, die noch in den Zug wollen. Es wird geschoben und gedrängelt. Die Bahn kommt aber nicht weiter, die Türbereiche sind blockiert. Durchsagen, dass doch bitte ein paar Leute aussteigen sollen, bewirken nichts. Irgendwann ist auch die Polizei am Bahnsteig und es gibt eine neue Durchsage. Alle, die nicht sitzen, müssen raus aus dem Zug. Das befolgen die Menschen. Plötzlich ist Platz in der Bahn. Die Stimmung verbessert sich, der Zug fährt weiter. Ein wenig später sinkt die Laune wieder. Nach und nach sehen die Menschen auf ihren Apps, dass die Bahn nicht mehr bis Kassel fährt, sondern schon früher nach Halle zurückfährt. Verspätungskürzung nennt sich das im Bahn-Deutsch. Ziemlich unerwartet finden sich also etwa 300 Menschen im thüringischen Leinefelde auf dem Bahnsteig wieder. Eine nachfolgende Regionalbahn in Richtung Kassel erweist sich als winzig klein und ebenfalls schon überfüllt. Auf dem Gleis gibt es die unterschiedlichsten Reaktionen. Manche sind wütend, andere schauen auf ihre Telefone und denken über alternative Reisemöglichkeiten nach. Manche nehmen es mit Humor: »Wo ist die nächste Pizzeria?« Tatsächlich gibt es einen Imbiss am Bahnhof, der nach ein paar Minuten belagert wird. Andere machen es sich irgendwo gemütlich, die einen kiffen, ein anderer spielt Gitarre. Der Versuch, mit einem Bus weiterzufahren, scheitert. Auf die Frage, ob er einen größeren Bahnhof anfährt, lacht ein Busfahrer und sagt: »Nein, das hier ist der größte.«

Weiter nach Kassel geht es auf Umwegen. Dort ist es noch voller. Reisende erzählen, dass ein oder zwei Bahnen in ihre Richtung ohne sie abgefahren sind, weil sie keinen Platz mehr bekamen. Im Zug Richtung Ruhrgebiet ist es ziemlich ruhig. Den dicht gedrängten Menschen ist anzusehen, dass sie lange Fahrten hinter sich haben. Auf dem Weg nach Wuppertal gibt es noch einen langen Umstieg. Statt um 19.23 Uhr ist die Reise erst um 23.25 Uhr vorbei. Aus Görlitz hat es fast 16 Stunden gedauert.

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