- Politik
- China
Die kurze Freiheit in Shanghai
China kommt aus dem Stop-and-go bei der Corona-Politik nicht heraus
Die neue Normalität war in Shanghai nur eine Illusion: Seit ein paar Tagen berichten unzählige Bewohner davon, dass sie mitten in der Nacht von Mitarbeitern in Seuchenschutzanzügen aus ihren Betten gescheucht wurden, um sich für spontan einberufene Massentests anzustellen. »Die Freiheit war nur kurz«, sagt ein US-Amerikaner in Shanghai, der nach dem nächtlichen Überfall der Gesundheitsbehörden die Hiobsbotschaft erhielt: Nach über zwei Monaten Lockdown wird er nun wieder für mindestens vier Tage in seine Wohnung gesperrt.
Die erneuten Einschränkungen schmerzen umso mehr, als dass die Hoffnung auf einen normalen Alltag erst vor kurzem genährt wurde: Der Feierabendverkehr füllte sich wieder, die Läden öffneten ihre Pforten. Es schien, als ob Shanghai nach einem zweimonatigen Lockdown allmählich wieder zur Normalität findet.
Doch nur eine Woche nach der vermeintlichen Öffnung hat die chinesische Metropole nun wiederholt flächendeckende Ausgangssperren angekündigt: Übers Wochenende sollten acht Bezirke durchgetestet werden und deren 15 Millionen Bewohner nicht mehr vor die Haustür treten. Ausgelöst wurde die Entscheidung laut offiziellen Zahlen durch elf Infektionen am Donnerstag.
In der bevölkerungsreichsten Stadt des Landes lösten die Maßnahmen der Autoritäten flächendeckende Panikkäufe aus. In mehreren Stadtteilen wurden die Gemüseregale vollständig leergekauft. Es ist, als befindet sich Shanghai wieder am selben Punkt wie Ende März: in vollständiger Ungewissheit, ob man morgen bereits eingesperrt ist oder nicht.
Und auch in Peking haben die Behörden die Einschränkungen wieder angezogen: In Chaoyang, immerhin der bevölkerungsreichste Bezirk der Hauptstadt, müssen sämtliche Bars und KTV-Salons nur drei Tage nach ihrer Öffnung wieder schließen. Dort hat eine Person nach einem Bar-Besuch laut Angaben der Behörden insgesamt 29 Menschen infiziert, die insgesamt in zwölf verschiedenen Bezirken leben. Seither wurden mutmaßlich Hunderttausende Bewohner in ihre Wohnanlagen gesperrt, da sie als »enge Kontaktpersonen« gelten. »Es wird daran erinnert, dass es immer noch versteckte Infektionsquellen in der Gesellschaft gibt, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollten«, heißt es in einer nüchternen Meldung der Staatsmedien.
Dass »Null Covid« keine nachhaltige Perspektive bereithält, scheint immer offensichtlicher. In Dandong, der nordostchinesischen Grenzstadt, haben die Behörden nun gewarnt, dass angeblich mit dem Wind aus Nordkorea Erreger des Virus nach China kommen könnten. Dennoch deutet alles daraufhin, dass Pekings Parteiführung an seiner Nulltoleranzstrategie festhalten wird – und zwar weit über 2023 hinaus: In jeder größeren Stadt gehören PCR-Massentests derzeit zum Alltag, allein in Shanghai wurden über 15 000 Teststationen installiert. Die japanische Investmentbank Nomura hat ausgerechnet, dass die Infrastruktur zum Testen landesweit bis zu 1,7 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukt ausmachen könnte.
Chinas führende Virologen erklären sich seit längerem bereits nicht mehr gegenüber ausländischen Journalisten – zumindest, wenn das Aufnahmegerät läuft. Doch selbst in Hintergrundgesprächen in Peking wird im Brustton der Überzeugung die eigene »Null Covid«-Strategie vertreten, als würde es sich dabei um den einzig korrekten Weg handeln. Oft schwingt bei den Aussagen chinesischer Experten auch der Vorwurf mit, dass die restliche Welt viel zu wenig tut, Covid einzudämmen – während die Volksrepublik China als einziger Staat den »Krieg gegen das Virus« weiter aufnimmt.
Doch die offensichtlichen Schwächen der chinesischen Strategie liegen auf der Hand. Noch immer sind rund 100 Millionen Einwohner im Land gar nicht oder unzureichend geimpft, das absolute Gros davon sind Senioren über 70 Jahre.
Paradoxerweise hat ausgerechnet die strikte staatliche Zensur, die keinerlei Debatten über Gesundheitsrisiken zulässt, ein Informations-Vakuum kreiert, das allerlei Platz für wissenschaftlich unbegründete Theorien zuließ. Auf den sozialen Medien in China kursieren unzählige Gerüchte, dass die heimischen Vakzine Diabetes oder Leukämie auslösen könnten. Insbesondere die Alten, die sich nicht über ihren Arbeitgeber oder Parteiorganisationen zum Impfen überreden lassen können, hegen die größte Skepsis.
Nun haben Dutzende chinesische Städte reagiert und versuchen, diese mit freien Versicherungen zu ködern. Diese zahlen den Betroffenen umgerechnet bis zu 70 000 Euro aus, sollten sie aufgrund einer Impfdosis gesundheitliche Probleme bekommen.
Doch an eine baldige Hoffnung glaubt derzeit niemand mehr in China. Selbst die scheidende Verwaltungschefin Hongkongs hat erstmals zugegeben, dass es wohl keine baldige Grenzöffnung zum chinesischen Festland gegen wird. Dies sei »nicht möglich«, sagte Carrie Lam bei ihrer jüngsten Pressekonferenz. Denn im Gegensatz zu Shanghai hat Hongkong vor einem radikalen Lockdown zurückgeschreckt – und sich unlängst von der »Null Covid«-Doktrin verabschiedet.
Kommentar Seite 8Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.