- Wirtschaft und Umwelt
- Streiks in Großbritannien
Mit Vorfreude und Entschlossenheit
Britische Eisenbahner bereiten den größten Arbeitskampf seit Jahrzehnten vor
Daniel Randall ist dieser Tage ganz schön aufgekratzt. Endlich passiert mal was. Randall ist 35 Jahre alt, er trägt einen rötlichen Vollbart und eine schwarzumrandete Brille. Seit acht Jahren arbeitet er in der Londoner U-Bahn, derzeit im Kundendienst einer betriebsamen Station im Zentrum der Millionenmetropole. Er hilft Passagieren beim Kauf ihrer Tickets, kündigt die Einfahrt der Züge an, sorgt für Sicherheit auf dem Bahnsteig und unterstützt Sehbehinderte. Randall ist zudem Gewerkschafter der Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) und überzeugter Sozialist – und als solcher blickt er der kommenden Woche mit Spannung und Vorfreude entgegen.
Selbst Margaret Thatcher hielt eine Privatisierung der Bahn für eine schlechte Idee. 1994, wenige Jahre nach dem Abgang der Iron Lady, kam dennoch das Ende der staatlichen British Rail. Der Betrieb und Unterhalt der Schienen und der Signale wurde der Privatfirma Railtrack übertragen, und zwei Dutzend Betreibergesellschaften übernahmen per Konzession die Kontrolle über den Betrieb der einzelnen Streckenabschnitte.
Schon bald stellte sich die Privatisierung als jenes Desaster heraus, das Kritiker vorausgesagt hatten. Knapp drei Jahrzehnte nach der Privatisierung ist das britische Bahnsystem völlig marode: Die Züge sind überteuert, vielerorts überfüllt und unzuverlässig, und der Fiskus muss jährlich mehrere Milliarden Pfund an Subventionen hinblättern – die staatseigene Bahn war inflationsbereinigt weniger als halb so teuer. Die versprochene Effizienzsteigerung blieb aus.
Der Netzbetreiber Railtrack wurde bereits vor 20 Jahren zurück in die öffentliche Hand genommen, nachdem mangelnde Wartungsarbeiten einen tödlichen Unfall verursacht hatten. In den vergangenen Jahren sind auch die Rufe nach einer Wiederverstaatlichung des gesamten Bahnwesens gewachsen. Umfragen zeigen immer wieder, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung eine Vergesellschaftung begrüßen würde.
Im September 2020 tat die Regierung einen ersten Schritt: Sie verwarf das seit 25 Jahren bestehende Konzessionssystem, stattdessen wird jetzt mehr Wert auf Kooperation zwischen den einzelnen Betreibergesellschaften gelegt. Schottland ist kürzlich noch weitergegangen: Am 1. April wurde die gesamte schottische Bahn in staatliche Hand genommen. Peter Stäuber
Am Montag beginnt ein Streik, wie ihn das britische Transportwesen schon lange nicht mehr gesehen hat. Etwa 40 000 Eisenbahner*innen der RMT werden an drei Tagen geschlossen die Arbeit niederlegen, darunter Schaffner*innen, Ingenieur*innen und Stellwerker*innen. Es ist eine koordinierte Aktion von Angestellten aus 13 verschiedenen Unternehmen und der halbstaatlichen Infrastrukturgesellschaft Network Rail. Zur Erinnerung: Seit der Privatisierung von British Rail in den frühen 1990er Jahren wird der britische Bahnverkehr von mehreren privaten Gesellschaften betrieben, Network Rail ist verantwortlich für die Schienen- und Signalanlagen. Zum ersten Mal streiken Angestellte aus fast allen dieser Unternehmen, ein Großteil des Schienenverkehrs in Großbritannien wird stillstehen. Es ist der größte Eisenbahnerstreik seit über 30 Jahren.
Am kommenden Montag, dem ersten Streiktag, werden auch Daniel Randall und seine 10 000 RMT-Kolleg*innen der Londoner U-Bahn in den Ausstand treten. Sie haben bewusst diesen Tag gewählt, um eine größere Wirkung zu erzielen. Am Samstag vor den Arbeitsniederlegungen hat zudem der Gewerkschaftsdachverband TUC zu einer großen Demo in London gerufen, um höhere Löhne für alle Arbeitstätigen zu fordern – es dürfte der größte Protest der britischen Arbeiter*innenbewegung seit vielen Jahren werden.
»Mein ganzes Leben als Aktivist habe ich auf einen solchen Moment gewartet«, sagt Randall. Und er hofft, dass es nicht ein Augenblick bleibt, sondern dass diese Woche den Beginn einer neuen Ära für die Gewerkschaftsbewegung markiert: eine Zeit des Wiederaufbaus. »Es gibt Anzeichen, dass dies der Anfang eines Aufschwungs sein könnte«, sagt Randall. Er drückt sich vorsichtig aus. Zu oft hat die britische Linke auf einen Neuanfang gehofft, nur um dann enttäuscht zu werden.
Eigentlich ist es nicht schwierig, einen Schritt nach vorne zu machen, denn zurück geht es kaum: Die britische Arbeiterbewegung sitzt seit Jahrzehnten in einem tiefen Loch. Hatte das Land vor rund vierzig Jahren noch über 12 Millionen Gewerkschafter*innen, waren es zuletzt weniger als 6.5 Millionen. Laut Zahlen des nationalen Statistikbüros sind derzeit nur 23 Prozent der Lohnabhängigen in einer Gewerkschaft, das ist der tiefste je gemessene Wert. »Wir beginnen also auf einem sehr niedrigen Niveau«, räumt Randall ein.
Aber die vergangenen Monate haben ihn optimistisch gestimmt, zumindest was die Entschlossenheit der Gewerkschaften angeht. Tausende Lohnabhängige aus mehreren Sektoren sind in den Streik getreten, um für bessere Bezahlung zu kämpfen: Deliveroo-Fahrer*innen, Buschauffeur*innen, Uni-Lektor*innen, Reinigungspersonal oder Angestellte einer Süßwarenfabrik. In den zwölf Monaten bis April hat der TUC über 300 Arbeitskämpfe in verschiedenen Sektoren gezählt – so viele wie zuletzt vor fünf Jahren. Entscheidend ist, dass die Gewerkschafter*innen in vielen Fällen erfolgreich waren. Die Müllwerker*innen im südenglischen Seebad Eastbourne beispielsweise erzielten nach einem sechstägigen Streik eine Lohnerhöhung von 19 Prozent. Die Angestellten im Verteilerzentrum eines großen Baumarkts erkämpften sich mit einer mehrwöchigen Arbeitsniederlegung 11 Prozent mehr Lohn.
Woher kommt dieses zunehmende Selbstbewusstsein? Von der dringenden Notwendigkeit, könnte man sagen. Während der Covidkrise merkten viele Angestellte, dass ihr Job für die Gesellschaft und die Wirtschaft systemrelevant ist, etwa Krankenpfleger*innen oder Transportangestellte. »Dazu kommt, dass viele dieser Leute große Opfer gebracht haben: Sie haben ihre eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt, um die Wirtschaft am Laufen zu halten«, sagt Gregor Gall, Sozialwissenschaftler von Universität Glasgow, der sich auf die britische Arbeiterbewegung spezialisiert hat. »Aber eine angemessene Lohnerhöhung haben sie nicht gesehen.« Seit Anfang des Jahres steigen auch noch die Preise rasant an: Strom, Gas, Lebensmittel, Benzin – alles wird teurer, derzeit beträgt die Inflation neun Prozent. So versuchen die Gewerkschaften, deutliche Lohnerhöhungen auszuhandeln, um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen.
Auch die RMT hat es versucht. Manche der Bahnangestellten haben seit drei Jahren Nullrunden hinter sich, zudem ist ein Stellenabbau geplant. Die Bahnbetreibergesellschaften und Network Rail wollten den Forderungen der RMT nicht stattgeben, und so stimmten die Mitglieder mit überwältigender Mehrheit für einen Streik. In der Londoner U-Bahn wird ein separater Arbeitskampf geführt: Hier geht es um ein Sparpaket, das die Transportbehörde nach der Covidkrise plant. Die RMT-Mitglieder der U-Bahn, die sich stets ohne Hemmungen mit ihrem Arbeitgeber anlegen, feuern mit ihrem Streik schon mal einen Warnschuss: »Wir werden keinen Stellenabbau tolerieren, keine schlechteren Arbeitsbedingungen und keine schlechteren Renten«, sagt Daniel Randall.
In diese Zeit der wachsenden Militanz fällt die Demonstration am 18. Juni. Der Slogan »We demand better« (»Wir fordern etwas Besseres«) mag uninspiriert klingen, aber der Protest hat wichtige Signalwirkung. Die letzte große Demonstration, die der TUC organisiert hat, liegt zehn Jahre zurück, damals ging es um den Widerstand gegen die Sparpolitik. Allerdings verpuffte der Enthusiasmus recht schnell. Diesmal könnte es anders sein, sagt Gregor Gall. Nicht nur wegen der prekären Lage, in der sich viele Menschen finden, sondern auch wegen der Basismobilisierung in den vergangenen Wochen: »Der TUC hat im ganzen Land öffentliche Anlässe organisiert, auch in kleinen Orten, um für die Demo zu werben. Das ist eine sehr einfache, aber wichtige Art der Mobilisierung, die wir schon lange nicht mehr gesehen haben.«
Für die Gewerkschaften wird viel davon abhängen, wie groß der Protest am Samstag sein wird – und wie erfolgreich die darauffolgenden Streiks. »Wenn die Leute sehen, dass wir Arbeitskämpfe gewinnen, dann können wir sie viel einfacher davon überzeugen, dass sich Widerstand lohnt«, sagt Randall. Eine solche Zuversicht sei entscheidend für den Wiederaufbau der breiteren Bewegung. »Es steht viel auf dem Spiel.«
Auch auf konservativer Seite ist man sich der Bedeutung der kommenden Wochen bewusst. »Dies ist die Chance für die Gewerkschaften, Großbritannien unter ihre Kontrolle zu bringen«, schreibt der »Daily Telegraph« in gewohnt schrillem Ton. Das Blatt warnt: »Der Ausstand der Bahnarbeiter könnte eine neue Generation der Massenstreiks auslösen.« Die Regierung Boris Johnsons sieht das ganz ähnlich.
Entsprechend ihrem zunehmend autokratischen Stil reagiert sie, wie man es von ihr erwarten würde: Sie fasst eine Verschärfung der Streikgesetze ins Auge. Transportminister Grant Shapps überlegt, eine neue Regelung einzuführen, laut der ein Streik im Transportsektor illegal wäre, wenn nicht ein Minimum an normalem Betrieb aufrechterhalten wird. Freilich würde ein Ausstand dann seinen ganzen Zweck verfehlen – genau das Ziel der Regierung. Die Londoner RMT hat jedoch nicht vor, klein beizugeben: Sie hat bereits einen Beschluss gefasst, sich einem solchen Gesetz nicht zu beugen. Selbst Randall sieht dies als »recht radikalen Schritt«.
Eine zunehmende Konfrontation zwischen Regierung und Gewerkschaftsbewegung in den kommenden Monaten scheint unausweichlich. Für Randall geht es um mehr als Löhne und Arbeitsbedingungen: »Wir leben in düsteren Zeiten. Die ökologische Krise, das Erstarken des Rechtsnationalismus in vielen Ländern – es gibt viel Anlass für Pessimismus.« »Aber ein Moment wie dieser, wenn wir Widerstand leisten und sehen, was für Möglichkeiten sich für uns eröffnen – das gibt mir sehr viel Hoffnung.«
Daniel Randall sprach in persönlicher Funktion, nicht im Namen der RMT
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