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  • Sanktionen gegen Russland

Berlins Zukunft nach dem Gas-Embargo

Darüber, was ein Verzicht auf russische Rohstoffe für die deutsche Hauptstadt und Brandenburg bedeuten würde, gehen die Meinungen auseinander

  • Patrick Volknant
  • Lesedauer: 4 Min.

Die ostdeutsche Industrie zittert. Bei dem von der Europäischen Union beschlossenen Ölembargo soll es in Deutschland laut Bundesregierung keine Ausnahmen geben – auch nicht für die Raffineriestandorte in Schwedt und Leuna. Nach wie vor steht zudem ein mögliches Kappen der russischen Gaszufuhr im Raum, sei es von der einen oder der anderen Seite. Darüber, wie schwerwiegend die Konsequenzen des im kommenden Jahr greifenden Einfuhrstopps ausfallen werden, besteht Uneinigkeit. An der Hauptstadt werden die Maßnahmen jedoch nicht spurlos vorbeigehen.

»Wenn es um Energiesicherheit geht, leben wir leider in schwierigen Zeiten«, sagt Georg Friedrichs. Trotzdem gibt der Chef des Energieversorgers Gasag am Mittwoch im Wirtschaftsausschuss des Abgeordnetenhauses teilweise Entwarnung für die Hauptstadt, auch was einen Ausfall der russischen Gaslieferungen angeht: »Die meisten Räume dieser Stadt könnten wir vermutlich weiter versorgen.« Bei einer Halbierung des zur Verfügung stehenden Gases würde zuallererst die Versorgung der kritischen Infrastruktur sowie der Privathaushalte abgedeckt.

Den Fokus, so Friedrichs, könne man im Notfall auf die Pipelines im Baltikum legen. »Das haben wir zwar noch nie gemacht, aber wir sind zuversichtlich, dass es gut geht«, sagt der Gasag-Chef. »Ich glaube nicht, dass wir kalte Heizungen sehen werden.« Aufgrund des verhältnismäßig kleinen industriellen Sektors halte sich das Risiko in Berlin letztlich im Rahmen. Für ganz Deutschland käme ein Gasstopp laut Friedrichs jedoch einer »ziemlichen Katastrophe« gleich. Bei einem Anstieg der Gaspreise um das Vierfache käme man auf gut 1000 Euro, die für jeden erwachsenen Deutschen im Jahr zusätzlich anfielen. Hier müsse die Politik gegengesteuern.

Die Aussicht, dass vor allem die Berliner und Brandenburger Wirtschaft die Folgen eines Öl- und Gasembargos tragen soll, gefällt nicht jedem. »Wenn in der Wirtschaft ein Fließband stillsteht, dann hat das direkte Auswirkungen auf die Berlinerinnen und Berliner insgesamt«, sagt Simon Markgraf von der Industrie- und Handelskammer Berlin (IHK). Kein sonderlich großes Problem sei es hingegen, das eigene Auto hin und wieder in der Garage stehen zu lassen. Zudem: »Die Benzinpreise könnten im Nordosten Deutschlands stärker steigen als im Südwesten.«

Insgesamt 75 Prozent des Berliner Energiebedarfs werden derzeit laut Markgraf durch Öl und Gas gedeckt. Die regionale Wirtschaft beanspruche davon aber lediglich 13 Prozent. Der IHK-Vertreter fordert eine gerechte Verteilung der Lasten und mehr politische Rückendeckung für die Wirtschaft. »Es ist nicht nur die Industrie, die beim Thema Gas betroffen ist«, sagt Markgraf. Insbesondere im Gastgewerbe und der Bauwirtschaft fürchte man sich sehr vor einem Gasembargo: »Jetzt ist auch Psychologie im Spiel.« Die Investionsbereitschaft sei bereits massiv gesunken, so Markgraf. Die Politik müsse dringend Versorgungsalternativen aufzeigen.

Wie diese langfristig aussehen könnten, erklärt Simone Peter vom Bundesverband Erneuerbare Energie. »Das Ölembargo wird wohl weniger Konsequenzen haben als ein Gasembargo«, sagt Peter, bis 2018 Bundesvorsitzende der Grünen. Das Öl, auf das in Schwedt künftig verzichtet werden muss, könne etwa über Polen und den Rostocker Hafen angeliefert werden. Ebenso mitdenken will Peter jedoch den Ausbau heimischer Energieträger: »Wir sehen hier große Möglichkeiten in Berlin und Brandenburg.«

Früher oder später müsse es gelingen, zu 100 Prozent auf Ökostrom umzustellen, sagt Peter. Ihre Hoffnungen ruhen dabei insbesondere auf grünem Wasserstoff, der bei der Energiewende eine starke Rolle in der Region spielen soll. Die großen Braunkohlereviere im Osten böten zudem etliche Möglichkeiten für Solar- und Windkraftanlagen. »Wir haben für jedes Wärmeproblem eine technische Lösung«, sagt Peter – trotz aller kurzfristigen Herausforderungen.

Der Hoffnung, dass ein Loskoppeln von russischem Öl und Gas all das beschleunigen könnte, was ohnehin überfällig ist, kann auch Anis Ben-Rhouma von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) etwas abgewinnen. »Ich würde mich auch freuen, wenn wir Vorreiter in Sachen Energiewende werden«, sagt er und ergänzt: »Wir sind nicht mehr die Oldschool-Gewerkschaft von früher.«

In den vergangenen Jahren jedoch habe die Politik einiges verschlafen. Genug, dass die IG BCE nun befürchtet, dass die Auswirkungen eines Embargos nicht abgefedert werden können – weshalb sie sich dann auch dagegen ausspricht. »Das fällt uns nicht leicht, auch wenn man den Eindruck haben mag, dass wir nur unsere Interessen vertreten«, sagt der Gewerkschafter. Beim Blick in die Ukraine stocke ihm der Atem.

Gerade an der ökologischen Sinnhaftigkeit eines Einfuhrstopps hegt Ben-Rhouma dennoch Zweifel. Es gebe Berechnungen, die besagten, dass Flüssiggaslieferungen aus Katar für eine höhere Umweltbelastung sorgten als der Kohleabbau in der Lausitz. Beim kommenden Öl-Embargo hingegen müsse nun die Absicherung der Beschäftigten im Vordergrund stehen, so Ben-Rhouma: »Niemand darf ins Bergfreie fallen, sagt man bei uns.«

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