Mehr Schandmal als Mahnmal

Daniel Schwerd spricht sich dagegen aus, die Schmähplastik an der Wittenberger Stadtkirche zu belassen

  • Daniel Schwerd
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Shoa hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeprägt. Doch die Nazis haben Antisemitismus nicht erfunden, sie haben ihn perfektioniert. Antisemitische Stereotypen spielen eine entscheidende Rolle: Im Mittelalter entstandene judenfeindliche Erzählungen und entsprechende Darstellungen tauchen bis heute immer wieder auf.

Eine dieser Kontinuitäten findet sich in den christlichen Kirchen. Religiös motivierte Judenfeindlichkeit besteht seit Anbeginn des Christentums. Martin Luther hat sich auch mit der Übersetzung und Neufassung ausgesprochen judenfeindlicher Schriften befasst. Eine davon, »Vom Schem Hamphoras«, welche er 1543 erstellte, verhöhnt Juden mit obszönen Worten.

Daniel Schwerd
Der IT-Spezialist gehörte von 2009 bis 2015 der Piratenpartei an, war von 2012 bis 2016 Landtagsabgeordneter in NRW. 2016 trat er in die Linke ein

Die »Judensau« ist ein wiederkehrendes Motiv christlicher Kunst. Sie soll Juden beleidigen, indem sie sie mit dem als unrein empfundenen Schwein in Zusammenhang bringt. Dieses Motiv findet sich noch heute in Bildern, Wasserspeiern oder Reliefs an verschiedenen Kirchen in Deutschland. In der Lutherstadt Wittenberg ist eine dieser Darstellungen an der Stadtkirche zu finden, in der auch Luther predigte: Ein Rabbi schaut dem Schwein in den Anus. Drei weitere Figuren machen sich an den Zitzen der Sau zu schaffen. Überschrieben ist das Relief mit »Rabini« und »Schem Hamphoras« – eine ausdrückliche Referenz an die jüdische Bezeichnung Gottes.

Heute mag diese Obszönität lächerlich erscheinen – doch ihr Ziel war, Juden herabzusetzen und zu entmenschlichen. Die »Judensau« findet sich in antisemitischen Darstellungen des 19. Jahrhunderts und des Nationalsozialismus. Heute lebt sie in Sprechchören anti-israelischer Demonstrationen oder im Wurf von Schweineköpfen auf Synagogen weiter.

Die christlichen Kirchen wollen das Motiv aus historischen Gründen in der Regel nicht entfernen. Daher behilft man sich mit Tafeln, die auf das Motiv und seinen antijüdischen Hintergund hinweisen. Man hofft so, die Darstellungen erhalten zu dürfen und die Schmähung von Juden zu begrenzen. In Wittenberg gibt es eine Bodenplatte und eine Stele, die über das Relief aufklären.

Während dies für einige jüdische Menschen und Organisationen ausreicht, sind viele andere mit diesem Umgang nicht zufrieden: Seit 2019 wird gegen das Wittenberger Schmähbild prozessiert. Michael Düllmann von der jüdischen Gemeinde in Berlin klagt durch mehrere Instanzen auf Abnahme des Reliefs. Zuletzt entschied der Bundesgerichtshof für den Verbleib: Durch die Hinweistafel würde aus dem »Schandmal« ein »Mahnmal«.

Eines ist klar: Eine spurlose Beseitigung dieser Schandmale wird der Geschichte nicht gerecht. Die Erinnerung an den durch christliche Kirchen transportierten antijüdischen Hass ist wichtig. Doch wer bestimmt, was ein Mahnmal ist, was eine Schmähung? Müssen jüdische Menschen den Anblick einer antijüdischen Plastik aushalten, weil die Mehrheitsgesellschaft an die antijüdische Geschichte christlicher Kirchen erinnert werden muss?

Zum Vergleich kann man auf den Umgang Deutschlands mit Rassismus und Nationalsozialismus verweisen. Mit gutem Grund wurden Nazi-Symbole konsequent aus dem öffentlichen Raum getilgt. Gleichwohl finden sich an besonderen Stätten des Wirkens der Nazis heute Gedenkorte und Hinweistafeln, ohne dass man dazu die Symbole der Nazis zeigen muss. Und die Mohrenstraße in Berlin-Mitte muss nicht weiter so heißen, um an Rassismus gegen Schwarze zu erinnern.

An der St.-Stephani-Kirche in Calbe in Sachsen-Anhalt hat man eine besondere Form des Umgangs mit der judenfeindlichen Erbschaft gefunden. Nach der Restaurierung der 14 Wasserspeier der Außenseite der Kirche im Jahr 2020 wurde der »Judensau«-Speier nicht wieder angebracht. Die Figur ist seitdem verhüllt, ein angemessener Erinnerungsort soll noch gefunden werden.

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