Kettenreaktion in der Lieferkette

Auch gut zwei Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie klagen große und kleine Firmen über Engpässe

  • Hermannus Pfeiffer, Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.

In der Nordsee stauen sich seit einigen Wochen die Schiffe. Dutzende Frachter warten vor Rotterdam und Hamburg, den beiden für die deutsche Wirtschaft wichtigsten Häfen, darauf, dass sie einlaufen können. Jedes ist beladen mit Tausenden Containern. Ein Stau, der erneut Folgen für die Lieferketten hat.

Im Frühjahr 2020 traf der Corona-Schock Industrie, Logistik und Seeverkehr hart. Doch rund 27 Monate später hat sich die Lage vor allem für Mittelständler immer noch nicht normalisiert. Der Tante-Emma-Laden an der Ecke führt immer noch kein Sonnenblumenöl, dem auf Entfeuchtung von Gebäuden spezialisierten Maschinenbauer fehlen Luftleitungen und Verbindungsstecker, und die Automobilindustrie klagt weiter über den Mangel an Halbleitern.

Die Gründe sind individuell unterschiedlich und gleichen sich doch: Für das fehlende Sonnenblumenöl macht der Verband der ölsaatenverarbeitenden Industrie in Deutschland den Krieg verantwortlich. So seien die Ukraine mit 51 und Russland mit 27 Prozent die weltweit wichtigsten Exportländer für Sonnenblumenöl, und Deutschland decke seinen Bedarf zu 94 Prozent über Importe.

Hinzu kommt: Die Weltmarktpreise für Öle sind drastisch gestiegen. Die Industrie reagiert darauf offensichtlich mit Verknappung. Da Hersteller die extrem hohen Einkaufspreise bei billiger Massenware nicht einfach an die Einzelhandelskonzerne weitergeben können, die sich auf laufende Rahmenverträge mit festen Preisen berufen, wird die Produktion gedrosselt. Im Ergebnis bleiben Regale hauptsächlich kleinerer Geschäfte leer.

Auch der Mangel im Maschinenbau ist nicht allein eine Folge global angespannter Lieferketten. Hier greift oft das Toilettenpapier-Phänomen: Nach der schnellen Verbreitung von Covid-19 in Europa begannen auch viele Firmen damit, Waren zu horten. Sind bestimmte Teile wie Leitungen oder Stecker lieferbar, werden enorme Mengen auf Vorrat bestellt. Großhändler, die selber über Nachschubmangel klagen, deckeln daher Bestellmengen oder beliefern nur noch wichtige Stammkunden.

Der Ukraine-Krieg hat weitere Kettenreaktionen ausgelöst. So kann Siemens Energy eine reparierte Turbine für die Gaspipeline Nord Stream 1 wegen des westlichen Embargos nicht nach Russland ausliefern. Gazprom reduzierte daraufhin seine Lieferungen. Die aufgrund der wachsenden globalen Nachfrage ohnehin steigenden Preise für Energie- und Agrarrohstoffe schlagen sich auch hierzulande nieder. Die Folge ist nicht allein eine hohe Inflation. Auch lohnt sich aktuell die energieintensive Herstellung bestimmter Lacke oder Fasern für die Chemieindustrie nicht, berichten Branchenkenner. Deren Herstellung werde heruntergefahren, lukrativere Produktlinien hingegen hochgefahren.

Dies trifft auch auf die Autoindustrie zu. Deren fehlender Chip-Nachschub war ursprünglich eine Folge des Corona-Schocks. Deutsche Konzerne hatten kaum noch in Taiwan und China geordert. Als die Autokonjunktur überraschend schnell wieder ansprang, fehlten Halbleiter. Diese wurden dann vorwiegend in teuren Typen verbaut, was zu »Übergewinnen« in den Bilanzen führte, aber auch zu überlangen Lieferzeiten für Klein- und Mittelklassewagen.

Dabei laufen die Chip-Fabriken in aller Welt wieder auf Hochtouren. Nun kommt jedoch ein weiteres Phänomen ins Spiel: Der Trend zu Elektromobilität, Industrie 4.0 und Homeoffice hat die weltweite Nachfrage nach Halbleitern in die Höhe getrieben. Und bis die in Europa und Asien neu projektierten Chip-Fabriken, wie die von Intel in Magdeburg, tatsächlich größere Mengen liefern, werden Jahre vergehen.

»Versorgungsnetzwerke und Lieferketten sind zum Zerreißen gespannt«, fasste Industrieverbandspräsident Siegfried Russwurm kürzlich auf der Hannover-Messe die Lage zusammen. Selbst Optimisten erwarten frühestens im ersten Halbjahr 2023 eine Entspannung. Bis dahin stößt auf die Lieferengpässe eine starke Nachfrage, was die Preise zusätzlich hochtreibt.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass in China, dem wichtigsten deutschen Handelspartner, wegen Corona-Ausbrüchen ganze Städte in wochenlange Lockdowns geschickt werden. Dadurch können Waren nicht produziert oder transportiert werden, kommen verspätet an, oder es mangelt an leeren Containern für den Seetransport. Zwar löst sich der Schiffsstau vor dem weltgrößten Hafen in Shanghai langsam auf, doch er hat sich nun an die Nordseeküste verlagert. Und wenn die überlasteten Häfen diesen in den kommenden Wochen abarbeiten, droht die nächste (Liefer-)Kettenreaktion: bei Speditionen, Bahn und Logistikern im Hinterland.

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