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Über die Politisierung von Ästhetik
Der Antisemitismus-Skandal der Kasseler Ausstellungsreihe Documenta wirft die Frage auf, auf welche Weise Kunst heute politisch sein sollte
Das letzten Freitag im Rahmen der Kunstschau Documenta am Kasseler Friedrichsplatz installierte Banner »People’s Justice« sorgte für Entsetzen, weil es unmissverständlich antisemitische Motive enthält. Die Entscheidung, das Großgemälde des indonesischen Kollektivs Taring Padi zu entfernen, kam zwar am Dienstag zu spät, war aber richtig. Das Beste wäre jetzt vermutlich, die ganze Schau vorzeitig zu beenden. Ein Kuratorenteam, das nach der Maxime »Das wird man ja wohl noch zeigen dürfen« verfährt; eine Veranstaltungsleitung, die wegschaut und den Israel-Boykott unterstützt – da gibt es nicht mehr viel zu retten.
Der Documenta-Eklat, meinen Catrin Lorch und Jörg Häntzschel in der »Süddeutschen Zeitung«, bestehe darin, dass der Aktivismus über die Kunst gesiegt habe. Das kann man so sehen. Aber wenn man genauer hinsieht, zeigt sich: Die Gegenüberstellung ist zu grobkörnig. Aktivismus und Propaganda sind nicht gleichzusetzen. Agitprop, die Vorform des künstlerischen Aktivismus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verstand sich als Teil einer ästhetischen Avantgarde, die auch gesellschaftlich ganz vorn sein wollte. Was jetzt zur Debatte steht, ist die Qualität aktivistischer Kunstwerke und -praxen. Oder ihre Rückständigkeit.
Es wird also Zeit, über das Verhältnis von politischer und ästhetischer Urteilskraft zu diskutieren. Fürwahr, ein heikles Thema. Die überlieferte Vorstellung von autonomer Kunst ist seit Ende der 1960er Jahre sturmreif geschossen worden. Heute beanspruchen identitätspolitische Ansätze Deutungshoheit. Kulturrelativistische Dogmen und identitätspolitische Inhalte werden als Kriterien für ästhetische Relevanz anerkannt. Sie sollen der Bewertung von Formqualitäten zugrunde gelegt werden. Oder jene Kriterien ersetzen, wenn nicht mehr akzeptiert wird, dass Formqualität das zuständige Kriterium in ästhetischen Debatten ist.
Sicherheitshalber sei hinzugefügt: Formqualitäten, die sich nicht schlüssig auf Inhalte beziehen lassen, sind – nicht nur für Hegelianer*innen – belanglos. Von da aus mag einleuchten, dass politische und ästhetische Urteilskraft zusammenhängen. Die Ästhetisierung der Politik, kann man in Anlehnung an Walter Benjamin sagen, ist nicht nur politisch falsch, sondern auch ästhetisch.
Ästhetische Erfahrung produziert Raum für die Differenz zur sozialen Wirklichkeit. Hier kann anschaulich gelernt werden, zu unterscheiden. Das Lehnwort aus dem Griechischen für »unterscheiden« ist bekanntlich »kritisieren«. Kritik muss nicht im ästhetischen Objekt selbst angelegt sein. Sie kann sich auch an affirmativen Kunstwerken entzünden. So zum Beispiel an Markus Lüpertz’ »Deutschen Motiven« aus den 1970ern, einer Mystifikation der deutschen Gewaltgeschichte. Oder am gefeierten Projekt der Verhüllung des Arc de Triomphe letztes Jahr nach Plänen des Künstlerehepaars Christo und Jeanne-Claude. Ein Symbol des Imperialismus verschwand aus dem Stadtbild, doch gleichzeitig wurde es betont. Das Verhüllte war präsent; unsichtbar waren Details, keineswegs seine Monumentalität. Dieser Ansatz war keine provokante Verstörung des Gewohnten. Er zelebrierte ein bewährtes Ritual. Der Kunst- und Kulturbetrieb feierte sich selbst.
Aus der Betrachtung von ästhetischen Monumenten der Herrschaft lässt sich praktisch-kritische Erkenntnis gewinnen. Aber nur, wenn sie durch subversive Lesarten neu angeeignet werden. In Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« wird erzählt, wie Mitglieder der Widerstandsgruppe Rote Kapelle 1937 den Pergamonaltar in Berlin betrachten. Sie lernen, unter welchen Bedingungen das Monumentalwerk entstand. Klassenkämpfer*innen auf verlorenem Posten studieren historische Zeugnisse der Kunst. Die Rekonstruktion innerer Widersprüche treibt Risse in die Geschichtsschreibung der Sieger.
Dafür ist ein drängendes Interesse an kultureller Aneignung unerlässlich. Aber auch die Anstrengung, sich der historisch überlieferten Künste rezeptiv gewachsen zu zeigen, ihre Diktionen zu begreifen. Kunst ist nichts X-Beliebiges. Die vulgärsoziologische Ansicht, Kunst sei das, was Künstlerinnen und Künstler machen, ist subaltern. Die Künste sind Teil einer symbolischen sozialen Praxis. Über deren Formen, über Gehalte und – Triggerwarnung! – qualitative Rangstufen urteilen Expert*innen in Fachdiskursen. Widerständige Diskurse über Kunst können sich diesem Zusammenhang nicht einfach per Absichtserklärung entziehen. Peter Weiss: »Wollen wir uns der Kunst … annehmen, so müssen wir sie gegen den Strich behandeln, … alle Vorrechte, die damit verbunden sind, ausschalten und unsere eigenen Ansprüche in sie hineinlegen. Um zu uns selbst zu kommen, …, haben wir … die Kultur … neu zu schaffen, indem wir sie in Beziehung stellen zu dem, was uns betrifft.«
Für einen zeitgemäßen Begriff von Kunst und Politik sind noch immer Walter Benjamins Überlegungen zur Politisierung der Ästhetik hilfreich. Die neuen Bildmedien, meinte er, verändern »die gesamte soziale Funktion der Kunst«. Die Künste werden politisch, weil Menschen neue, kollektive Wahrnehmungsgewohnheiten entwickeln. Darin sah Benjamin einen revolutionären Beitrag zur sozialen Veränderung. Der Nationalsozialismus habe darauf mit »Ästhetisierung der Politik« geantwortet. Sie soll den Massen zu ihrem »Ausdruck« verhelfen, aber sie enthält ihnen ihr »Recht« vor, nämlich das »Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse«. Der phantasierte Volkswille einer imaginären Volksgemeinschaft wurde expressionistisch inszeniert. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wurde nicht angetastet. Dagegen, meinte Benjamin, müsse die »Politisierung der Ästhetik« weiter vorangetrieben werden.
Der Kunstbetrieb folgt heutzutage der Logik kulturindustrieller Events. Er macht Reklame für die jeweiligen westlichen oder östlichen Werte. Digitalkunstwerke werden als sogenannte non fungible tokens, die überprüfbar singulär und unersetzbar sind, zu gespenstischen Wiedergängern einer ästhetischen Ökonomie des Ausstellungswerts und des Tauschwerts. Sie sind Teil einer proprietären Ökonomie, die keinen objektiven ästhetischen Sinn mehr hat, seit Kunstwerke ins Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit eingetreten sind.
Heute müsste eine Politisierung der Ästhetik darin bestehen, mittels ästhetischer Erfahrung neue Handlungsräume zu erschließen. Gerne auch durch die Dekonstruktion von ästhetischen Zeichen der Herrschaft.
»Ästhetisierung der Politik« wird aber nicht nur, wie zu Benjamins Zeit, von rechts betrieben; sie ist heute auch ein populäres Stilmittel des linken Aktivismus. Was dabei herauskommt, kann künstlerisch unzureichend sein – wie das Kasseler Riesenbild mit seinen unbeholfen dargestellten Figuren im Stil der Nazipropaganda. Juden als Blutsauger und Israelis als Schweine – das ist die Ästhetik aus der Hölle des autoritären Charakters. Antisemitismus ist die Kapitalismuskritik des »dummen Kerls«, kann man in Abwandlung des zu Recht berühmten sozialdemokratischen Bonmots sagen. So sehen Werke, die aus diesem Geist entstehen, dann auch aus: widerwärtige politische Propaganda, eine ästhetische Bankrotterklärung.
Doch gilt das auch in ihrem ureigenen Kontext? Die Documenta will keine Westkunstschau mehr sein, sondern eine Weltkunstschau. Die ästhetischen Maßstäbe der westlichen Moderne, die lange Zeit unbestritten dominierten, sind vehement angegriffen worden. Zunächst von der Postmoderne, dann von Seiten des Multikulturalismus und der Postcolonial Studies. All das mit guten Gründen.
Dennoch: Antisemitische Projektionen in drittklassigen Werken sind wahnhaft und mörderisch, auch wenn sie im gegebenen kulturellen Rahmen »funktionieren«. Womöglich gerade dann. Sie taugen zum Aufhetzen, aber ästhetische Erfahrungen kann man an und mit ihnen nicht machen. Letzteres gilt übrigens auch für die nebulöse Deutschland-Propaganda von Markus Lüpertz, die im Kunstbetrieb nicht bei ihrem richtigen Namen genannt wird.
Linke Impulse, die Kunst politisieren, sind etwas ganz anderes als Propaganda. Kunst ist politisch, wenn sie Menschen hilft, ihr zeichenvermitteltes Verständnis der Welt und auch ihr praktisches Verhältnis zur Welt zu gestalten. Sie hilft niemals durch Reproduktion von Stereotypen, aber häufig durch Verrätselung und Irritation. Kunst entzieht sich »dem gewohnten Umgang mit symbolischen Medien«, um »eigene Formen und Strukturen« zu schaffen und sich dem geläufigen Verständnis zu widersetzen, schrieb der Berliner Philosoph Georg W. Bertram. Das ist die unentbehrliche Kehrseite des lernenden Aneignens und Umdeutens von Herrschaftskunst, die Peter Weiss beschreibt. Wenn ästhetische Autonomie nicht falsch verstanden wird (als fiktive Autarkie der Kunst), ist sie Selbstgesetzgebung der Form. Dann gibt sie Modelle für politische Urteilskraft – als Vorschule politischer Autonomie.
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