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Panikmache versus Realität
Martin Goßmann vom Verein Sterbehilfe über die Hoffnungen von Menschen, die ihr Leben beenden wollen
Worin besteht Ihre Aufgabe beim Verein Sterbehilfe?
Ich leiste im engeren Sinn keine Sterbehilfe, verabreiche also keine zum Tod führenden Medikamente, sondern konzentriere mich auf die Begutachtung der Sterbewilligen, die zum Verein kommen. So erhalte ich mir meine gutachterliche Unvoreingenommenheit.
Martin Goßmann ist Neurologe und Psychiater, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychoanalytiker. Er absolvierte auch eine palliativmedizinische Weiterbildung und ist seit 1994 gutachterlich tätig. Mit dem Leiter des Ärzteteams beim Verein Sterbehilfe sprach Christa Schaffmann.
Sind Ihnen über die Jahre viele Menschen begegnet, denen Sie die Freiverantwortlichkeit – Voraussetzung für den assistierten Suizid – nicht bescheinigen konnten?
Nein. Das liegt aber nicht an großzügiger Handhabung, sondern daran, dass der Verein, bevor er überhaupt einen Gutachter hinzuzieht, ein ausführliches Gespräch mit dem zur Selbsttötung Entschlossenen führt. Sollten dabei bereits Zweifel auftauchen, kommt es gar nicht zur Begutachtung. Mir begegnet also eine selektierte Klientel.
Was erwarten oder erhoffen sich diese Menschen von Ihnen?
Sie erhoffen vor allem eine vorurteilsfreie Begegnung. Wenn sie nach sorgfältiger Prüfung erfahren, dass ihrem Wunsch nach einem assistierten Suizid entsprochen werden kann, sind sie häufig sofort entlastet. Dieses Gefühl der Sicherheit lässt manche den Suizid sogar auf später verschieben.
Welche Mittel stehen dem Verein bei der Sterbehilfe zur Verfügung, welche nicht?
Natrium-Pentobarbital (NaP) steht in Deutschland noch nicht zur Verfügung, obwohl es statistisch gesehen das sicherste und damit am besten geeignete Mittel wäre. Es gibt eine Klage mit dem Ziel der Freigabe durch das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte; dieses müsste das unter das Betäubungsmittelgesetz fallende Präparat freigeben. Das tut das Amt nicht, unter anderem mit dem Argument, dass NaP sehr gut geeignet wäre, um sich umzubringen. Außerdem gäbe es ja Alternativen für die Selbsttötung. Das ist zynisch. Natürlich gibt es Alternativen; man kann sich Insulin spritzen, sich vor einen Zug werfen, aus dem Fenster springen, sehr viele Schlafmittel nehmen, sich strangulieren. Oder man entscheidet sich für eine Infusion, die zum Koma führt. Bei Koma-Stufe 5 setzt der Atemreflex aus. Auf einer niedrigeren Komastufe muss man eine weitere Substanz geben, die den Tod herbeiführt. Das Verfahren wird zum Beispiel in den USA bei Todesstrafen angewandt. Dass man es Sterbewilligen in Deutschland vorenthält, empfinden manche von ihnen als eine Art Strafe für ihre Entscheidung entgegen der Rechtslage.
2021, also nach dem Karlsruher Urteil, hatte Dignitas Deutschland von 97, der Verein Sterbehilfe von 129 und die Gesellschaft für Humanes Sterben von 120 Freitodbegleitungen berichtet, insgesamt waren es 346 Fälle. Diesen gegenüber stehen 1 016 899 Sterbefälle insgesamt. Rechtfertigt das die in der Orientierungsdebatte von mehreren Abgeordneten geäußerte Befürchtung, dass sich demnächst Scharen von Menschen für einen assistierten Suizid entscheiden werden?
Ich erwarte eine solche Zunahme auch in Zukunft nicht und verstehe auch nicht, weshalb manche Abgeordnete das offenbar glauben. Was für ein Menschenbild liegt solchen Annahmen zugrunde? Ich treffe nicht auf Leute, die leichtfertig mit ihrem Leben umgehen, weder in meiner Arbeit als Arzt noch als Gutachter beim Verein Sterbehilfe. Der Normalbürger denkt nicht so, er muss nicht vor sich selbst geschützt werden, weder durch den Gesetzgeber noch durch Ärzte oder Politiker.
Wird die Weiterentwicklung der Medizin, die Möglichkeit, das Leben immer länger zu erhalten, wenn auch nicht unbedingt die Lebensqualität, nicht dazu führen, dass unabhängig von der Gesetzgebung mehr Menschen über einen selbstbestimmten Todeszeitpunkt nachdenken werden?
Es trifft zu: Menschen leben immer länger, nicht alle genießen das. Ich bin kein Hellseher, aber so viel ist klar: Veränderungen in der Wissenschaft und der Gesellschaft haben auch Einfluss auf die einzelnen Menschen und ihre Entscheidungen. Die Idee, dass der Patient ein Entscheidungspartner ist, setzt sich nur schrittweise durch. Nur weil viele Mediziner das inzwischen zumindest teilweise akzeptieren, konnte sich die Palliativmedizin entwickeln.
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