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»Der Staat hat unsere Freunde auf dem Gewissen«
Stiven Ospina über die Arbeit des Tribunal Popular, das prekäre Leben in der Millionenstadt Cali und Morddrohungen gegen ihn
Stiven, du hast kürzlich eine Morddrohung erhalten. Wie geht es dir?
Stiven Ospinau ist in Siloé geboren, einem der ärmsten Viertel der südkolumbianischen Stadt Cali. Der 30-Jährige hat Rechtswissenschaften studiert und das Tribunal Popular zur Aufklärung von Staatsverbrechen mitgegründet. Außerdem unterstützte er den Wahlkampf von Gustavo Petro und Francia Márquez in seinem Viertel.
Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Das ist zwar nicht die erste Drohung gegen mein Leben, aber diese makabre Art hat mich schon getroffen. Gleichzeitig bin ich total euphorisch, weil Gustavo Petro und Francia Márquez die Präsidentschaftswahl gewonnen haben. Das erste Mal in der Geschichte unseres Landes haben wir einen linken Präsidenten und eine schwarze Frau als Vize. Hoffentlich gibt es jetzt Gerechtigkeit für unsere Ermordeten, für Carlos und Gregorio, Daniel, Neison und all die anderen.
Petro war Mitglied in der M19-Guerilla und Márquez ist schwarze Umweltaktivistin. Du warst stark am Wahlkampf beteiligt. Hat die Drohung damit zu tun?
In Teilen, ja. Ich denke, sie richtet sich gegen meine Beteiligung am Wahlkampf. Aber auch gegen mein Engagement an den Protesten im letzten Jahr sowie bei der Aufarbeitung der Morde und Verbrechen, die der Staat gegen die Demonstrierenden begangen hat.
Sind die Wahlen auch ein Ergebnis der Proteste im vergangenen Jahr?
Auf jeden Fall. Am 28. April 2021 nahmen in Kolumbien nationale Proteste gegen die Regierung und ihre Reformpläne Fahrt auf. Tausende Menschen harrten im ganzen Land zwei Monate lang auf den Straßen aus. Polizei und Militär wurden eingesetzt, um gemeinsam mit Paramilitärs und bewaffneten Zivilpersonen die Straßenblockaden gewaltsam zu räumen und weitere Demonstrationen zu verhindern. 83 Menschen kamen dabei ums Leben, über 2000 wurden verletzt und mehr als 100 Personen sind immer noch verschwunden. Auch aus der internationalen Gemeinschaft wurde das Vorgehen der rechten Regierung unter Iván Duque massiv kritisiert, nachdem selbst eine Mission der Vereinten Nationen von der Polizei beschossen worden war. Bei mir im Viertel, in Siloé in der Millionenstadt Cali, wurden zwölf junge Menschen erschossen. Das hat die Menschen politisiert. Vor allem viele junge Menschen hoffen auf wirkliche Veränderungen.
Vor einem Jahr war in Siloé die Hölle los. Du warst an den landesweiten Protesten beteiligt und hast hier in deinem Viertel wochenlang, gemeinsam mit anderen, die Hauptstraße blockiert. Was hat dich zum Protest bewegt?
Das waren dieselben Gründe, die für Petro und Márquez sprechen: Wir wollen eine andere Politik. Eine, die unsere Bedürfnisse aufgreift. Seit 60 Jahren haben in Kolumbien immer die beiden gleichen konservativen Parteien regiert. Für Jugendliche in marginalisierten Vierteln gab es keine Perspektive, und am wenigsten in derart stigmatisierten Vierteln wie Siloé.
Cali war durch die langjährige Präsenz der Drogenkartelle und der verschiedenen anderen Konfliktparteien wie staatliche Kräfte, Guerillagruppen und Paramilitärs eines der Zentren des internen bewaffneten Konflikts. Siloé ist eines der ältesten Viertel der Stadt, es besteht aus elf Stadtteilen, die meisten befinden sich in Hanglage. Wie lebt es sich dort?
Die Lebensbedingungen in Siloé sind prekär. Die Kernprobleme sind Drogenhandel und -konsum; 28 kriminelle Banden teilen das Gebiet durch unsichtbare Grenzen auf und liefern sich immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen. Dazu hat das Viertel mit 23 Prozent eine der höchsten Raten extremer Armut des Landes. Etwa drei Viertel der Haushalte sind an den Strom angeschlossen, nur knapp die Hälfte an Erdgas, Kanalisation und die Wasserversorgung. Zudem führte die Covid-Pandemie zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Armut. Aber unser Leben ist eben auch geprägt von positiven Erfahrungen der Solidarität untereinander, massiver sozialer Organisation, Selbstverwaltung, Widerstand und der Resilienz der Bewohner*innen. Deswegen hat Siloé im Protest eine zentrale Rolle gespielt.
War deswegen auch die Repression so massiv?
Ja, genau. Hier sind Polizei und Militär vollkommen durchgedreht, sie haben auf Kinder und Jugendliche geschossen. Der Fall meiner Freunde Carlos und Gregorio ist ja ein Beispiel für den Terror. Die beiden wollten sich mit anderen Protestierenden vernetzen und sind dabei verschwunden. Zwei Tage lang haben wir sie überall gesucht, bis schließlich die Nachrichten berichteten, dass die beiden bei einem Verkehrsunfall gestorben seien. Sie waren auf einer Landstraße gefunden worden. Tot im Graben. Jedoch hatten sie Schusswunden. Um diese und all die anderen Fälle aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, haben wir ein Tribunal gegründet.
Wie funktioniert das Tribunal?
Die Wahrscheinlichkeit, dass in Kolumbien jemand einen fairen Prozess bekommt und dann noch für Verbrechen verurteilt wird, ist minimal. Das Tribunal versucht, genau dort einzugreifen, indem es unter internationaler Aufmerksamkeit zunächst die Fälle aufklärt und dann die Verantwortlichen moralisch und politisch verurteilt.
Und was habt ihr bisher gemacht?
Nach der Eröffnung des Volkstribunals haben wir der internationalen Gemeinschaft, den elf internationalen Geschworenen sowie Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen die Berichte über zwölf Morde und rund 30 weitere Verbrechen überreicht, darunter Folter, gewaltsames Verschwindenlassen und Morddrohungen gegenüber den Opfern.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Erfahrung am ersten Jahrestag der Ermordung unserer Genossen in Siloé war überwältigend. Da waren so viele Menschen! Es gab viel internationale Aufmerksamkeit. Manchmal muss man immer noch weinen, wenn man über die Fälle berichtet, einige Angehörige waren fix und fertig. Aber wir werden unsere Geschichte so oft wiederholen, bis es Gerechtigkeit gibt. Jetzt laufen der Prozess der Beweiserhebung, die Untersuchungen der Fakten, forensische Nachforschungen, Interviews mit Zeug*innen. Darüber hinaus garantieren wir, das Gedenken und die Erinnerung aufrechtzuerhalten, damit sich diese Art von Verbrechen niemals wiederholt. Wir begleiten die Opfer solidarisch und unterstützen uns gegenseitig.
Welche Veränderungen braucht es für ein besseres Leben in Siloé?
Ich bin hier geboren und seit vielen Jahren in Initiativen im Viertel engagiert. Seit der Pandemie hat sich viel verändert. Wir waren vollkommen auf uns alleine gestellt, es gab keinerlei Hilfen des Staates, viele hatten nichts zu essen. Da haben wir Gemeinschaftsküchen organisiert und mit den Kindern Hausaufgaben gemacht. Viele haben keinen Zugang zum Internet, geschweige denn internetfähige Geräte. Also haben wir Gruppen organisiert, in denen wir versucht haben, ihnen zumindest ein bisschen Bildung zugutekommen zu lassen. Und dabei haben wir gelernt, dass wir am Ende vieles selbst machen müssen, um gut leben zu können. Vom Staat brauchen wir dazu Unterstützung: Zugang zu Bildung, zu Gesundheitsversorgung und Garantien für unsere Sicherheit.
Was erhoffst du dir nun nach dem Wahlerfolg für das Tribunal?
Wir werden Francia und Gustavo einladen. Beide haben ja immer auf der Seite der Opfer gekämpft, für die Benachteiligten, für die Niemande. Ich denke, sie werden die Aufklärung der Fälle unterstützen – und damit unseren Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit. Die ganze Welt soll wissen, dass der kolumbianische Staat unsere Freunde auf dem Gewissen hat. Jetzt haben wir das erste Mal in der Geschichte des Landes Politiker*innen an der Spitze, die unsere Interessen vertreten.
Hohe Erwartungen an eine junge Regierung.
Mir ist klar, dass unsere Aufgaben weitergehen und wir nicht erwarten können, dass die Politik unsere Probleme löst. Im Gegenteil: Jetzt müssen wir erst recht das Sozialgefüge stärken und Beziehungen im Viertel aufbauen. Wir erwarten eine Reaktion der Rechten, wir müssen vorbereitet sein. Ein großer Schwerpunkt des Tribunals ist es, das friedliche Zusammenleben auf ganz konkreter, lokaler Ebene zu stärken. Nur wenn die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse der Menschen gewährleistet ist, kann es zu einer positiven Entwicklung kommen. Denn nur so können wir verhindern, dass Kinder und Jugendliche sich den immer noch präsenten bewaffneten illegalen Gruppen anschließen oder zwangsrekrutiert werden. Dazu sind die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Suche nach Gerechtigkeit unumgängliche Elemente der Versöhnung.
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