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Die unbeugsamen Alten
Die Seniorenbegegnungsstätte Stille Straße 10 in Berlin-Pankow ist auch zehn Jahre nach ihrer Besetzung nicht sicher
Brigitte Klotsche lässt keinen Zweifel aufkommen. »Das ist unser Haus und wir werden hier sowieso nicht rausgehen«, erklärt die Seniorin aus Pankow in der Begegnungsstätte Stille Straße 10 am Dienstag bei einer Pressekonferenz.
Diese findet anlässlich eines denkwürdigen Datums statt: Vor genau zehn Jahren zogen Brigitte Klotsche, ihr Mann Peter, Ingrid Pilz, Margret Pollak und zwei weitere Seniorinnen in die Villa um die Ecke des Schlosses Schönhausen und campierten dort den ganzen Sommer 2012 über auf Matratzen und Europaletten. »Wir sind nur zum Wäschewaschen und Blumengießen nach Hause gegangen«, erinnert sich Peter Klotsche, der damals, wie seine Frau auch, schon über 70 war.
Die Klotsches sind alles andere als alt gewordene linksradikale Autonome, denen Besetzung als gängiges politisches Mittel gilt. Aber am Ende war der Anlass, der zu der Entscheidung der Pensionär*innen für den Häuserkampf führte, ein ganz ähnlicher wie derjenige für zahlreiche Besetzungen, die in Berlin und überall auf der Welt stattfinden: Menschen werden von Orten verdrängt, die es ihnen ermöglichen, sicher und selbstbestimmt zu leben und zu arbeiten – und die in der Regel nicht profit-, sondern gemeinwohlorientiert sind. Sie müssen weichen, weil eine einträglichere Nutzung winkt.
Sind es in der Hauptstadt in vielen Fällen Neueigentümer, Investoren und Immobilienunternehmen, die dafür sorgen, dass Mieter*innen, Gewerbetreibende und soziale Einrichtungen zu Tausenden um ihre Räumlichkeiten bangen müssen, war es im Fall der Stillen Straße der Bezirk Pankow, der vor zehn Jahren die Senior*innen relativ überraschend fallenließ.
»Plötzlich war das Geld nicht mehr da«, sagt Peter Klotsche. Und es sei bis heute nicht möglich gewesen, die etwa 55.000 Euro, die jährlich benötigt werden, um die Begegnungsstätte am Laufen zu halten, wieder im Bezirkshaushalt zu verankern – obwohl die Stille Straße mit Bezirksbürgermeister Sören Benn (Linke) durchaus prominente Unterstützung hat. Ein anderer Grund für den Ausstieg des Bezirks: die prognostizierten 2,5 Millionen Euro, die eine nutzungsgerechte bauliche Sanierung gemäß gesetzlicher Vorgaben kosten würde.
Fast ein halbes Jahr, bis zum Oktober 2012, harrten die Klotsches damals mit ihren Mitstreiter*innen in der Begegnungsstätte aus. Dann sprangen die Wohlfahrtsverbände Volkssolidarität und Paritätischer in die Bresche. Weil der neu gegründete Förderverein Stille Straße 10 Mitglied in beiden Organisationen wurde, übernahm die Volkssolidarität die Trägerschaft und mit 28.000 Euro einen Großteil der jährlichen laufenden Kosten. Jedes Jahr muss nun mit dem Bezirk eine neue Nutzungsvereinbarung geschlossen werden. Dies befreit das Bezirksamt von allen Kosten für das kommunale Haus.
Thomas Pfeiffer ist als Vertreter des Sozialträgers an diesem Dienstag vor Ort. Er schlägt vor, der Bezirk solle einen Runden Tisch zur Zukunft der Stillen Straße 10 einrichten. Dort müssten freie Wohlfahrtsverbände, die bürgerschaftlich Engagierten und der Bezirk selbst zusammenkommen, um eine dauerhafte Lösung zu erarbeiten. »Es braucht eine Perspektive, die länger dauert als fünf Jahre, ich spreche von 50 Jahren«, sagt Pfeiffer. Denn klar sei doch: Die Alten werden nicht weniger.
»Wir sollten damals 300 Menschen, die hier in 29 Gruppen die Begegnungsstätte nutzten, plötzlich verteilen«, erinnert sich Eveline Lämmer, die auch im Landesseniorenbeirat aktiv ist. »Das widerspricht dem Senioren-Mitwirkungsgesetz«, erklärt Lämmer, die von allen nur »Evi« genannt wird. »Wir werden der Berliner Politik deutlich machen, dass wir nicht locker lassen werden und eine Perspektive wollen.« Lämmer ist ein Motor im Kampf um die Stille Straße und darüber hinaus. »Das Abgeordnetenhaus muss ein Altenhilfe-Struktur-Gesetz beschließen«, macht sie die Richtung klar, in die es für sie gehen muss. Für sie ist die Auseinandersetzung ein Präzedenzfall, wie eine Gesellschaft mit ihren Alten umgeht.
Das sieht auch Jasmin Tabatabai so, die sich als Nachbarin der Senior*innen von Anfang an für den Erhalt der Begegnungsstätte eingesetzt hat. »Dieses Haus und was ihr hier macht, war immer eine Inspiration«, sagt die Schauspielerin und Regisseurin, die ebenfalls zur Pressekonferenz gekommen ist. Sie werde dafür werben, dass das Haus langfristig in die Hände des Fördervereins gegeben wird, erklärt Tabatabai, die auch als Schirmherrin fungiert und am Samstag aus einem anlässlich des zehnten Jahrestags der Besetzung erscheinenden Buch lesen wird. Es trägt den Titel »Die unbeugsamen Alten«.
Die Klotsches sind zusammen mit Margret Pollak und Ingrid Pilz in T-Shirts mit dem Aufdruck »Wir bleiben alle« zur Pressekonferenz erschienen. Sie wissen, dass sie mit dem Problem nicht allein sind. »Wir haben das nicht nur für uns getan«, sagt Peter Klotsche. »Es gibt viele Alte, die hätten sicher ein bisschen Angst vor einer solchen Aktion. Aber die hatten wir damals auch«, erinnert sich der alte Mann. »Der Frust ist immer noch da«, sagt Margret Pollak. Und deshalb werde man auch beharrlich bleiben. »Wir würden genau dasselbe wieder tun«, sagt sie entschlossen.
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