- Berlin
- KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen
Überlebende in virtueller Realität
In der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen kann man über einen »begehbaren Film« eine neue Dimension der Zeitzeugenbegegnung erfahren
Etwas ist anders an dem Bild, auf dem der Holocaust-Überlebende Ernst Grube und der Jugendliche Phil Carstensen sich gegenüberstehen. Beim zweiten Hinsehen kommt man darauf: Die Umgebung ist nicht real. Es ist kein Spielfilm und keine Dokumentation, in der Ernst Grube von seinem Leben berichtet – es ist eine virtuelle Realität. Und diese Realität soll so dicht und überzeugend sein, dass eine vollkommen neue Intensität in der Begegnung mit Zeitzeug*innen möglich sein wird, allem voran mit den Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtungsideologie. So zumindest wünschen es sich die Akteure hinter dem Virtual-Reality-Projekt »Ernst Grube – Das Vermächtnis«: Neben der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sind dies das Fraunhofer-Heinrich-Hertz-Institut und die Ufa GmbH.
Mit dem Projekt, das in dieser Woche für die Öffentlichkeit an den Start gegangen ist, können alle Besucher*innen der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in den kommenden Monaten den im Jahr 1932 als Kind jüdischer Eltern geborenen Ernst Grube in einem »begehbaren Film« selbst treffen. Oder wie es die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten formuliert: »Nutzerinnen und Nutzer können an der Erzählung Grubes teilnehmen, als stünden sie ihm direkt gegenüber.«
Vier Besucher*innen setzen sich dafür eine Virtual-Reality-Brille auf und befinden sich in einem Kubus, der in dem Gebäude der ehemaligen Häftlingswäscherei von Sachsenhausen eingerichtet wurde. In fünf Episoden können sie Ernst Grube dann durch insgesamt 50 Minuten Zeitzeugeninterview folgen – von seinem Elternhaus in München bis zum Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt, das Grube zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern überlebte. Aus der Videoinformation wird ein dreidimensionales Abbild von Ernst Grube berechnet, das direkt in eine virtuelle Welt integriert werden kann. Die einzelnen Stationen seines Lebens werden dann in einer virtuellen Umgebung bebildert und somit auf neue Weise erfahrbar.
Als Sohn einer jüdischen Mutter und eines evangelischen kommunistischen Vaters waren er und seine beiden Geschwister bereits ab 1938 Ausgrenzungen und Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt. Mit dem KPD-Abgeordneten und Widerstandskämpfer Ernst Grube, der 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb, nachdem er vor der Deportation dorthin auch im KZ Sachsenhausen inhaftiert war, hat der heute 89-jährige Grube nichts zu tun. Er lebt in München und ist ein prominentes Mitglied der bayerischen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.
Bekannt und aktiv als Zeitzeuge und Gesprächspartner ist er sichtlich angetan von dem Ergebnis des sogenannten volumetrischen Videos und der fotorealistischen dreidimensionalen Darstellung seiner selbst. »In der vielgestaltigen Erinnerungsarbeit waren und sind unsere Berichte als Überlebende der NS-Verfolgung ein wichtiger Beitrag. Diese unmittelbaren Zeugnisse werden mit unserem Ableben fehlen«, sagt Grube. Und fragt sich, ob die neue volumetrische Darstellung die Erzählungen sogar eindrücklicher dokumentieren und transportieren könne: »Ich bin selbst sehr beeindruckt von der technischen Umsetzung dieses ersten Beispiels, das meine Verfolgung und die meiner Familie zum Inhalt hat. Jetzt bin ich neugierig und gespannt, welche Wirkungen es vor allem bei jüngeren Menschen haben wird, die sich in diese Geschichte hineinbegeben. Werden sie intensiver berührt werden, nachdenken und nachfragen?«
Das will auch Axel Drecoll, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, wissen: »Mit der Präsentation gibt die Gedenkstätte Sachsenhausen erstmals einer Virtual-Reality-Anwendung einen Raum. Wir erforschen derzeit in verschiedenen Projekten, wie sich digitale Anwendungen auf dem Gelände der Gedenkstätte einbinden lassen und ob dies das Lernen am historischen Ort unterstützt.« Man arbeite auch an eigenen Anwendungen aus dem Bereich und werde diese bald testen, erklärt Drecoll weiter. »Durch digitale Technologien können Überlebende, die nicht persönlich vor Ort sind, ihre Verfolgungsgeschichte erzählen. Auch Gebäude, die heute nicht mehr existieren, könnten mithilfe von digitalen Anwendungen wieder sichtbar gemacht werden. Uns interessiert dabei, ob Besucherinnen und Besucher am historischen Ort digitale Technik überhaupt als sinnvolle Ergänzung betrachten.«
Daher können sich alle, die die Projektion nutzen, im Anschluss an einer kurzen Online-Auswertung beteiligen. Ufa-Geschäftsführer Joachim Kosack ist sich derweil bereits sicher, dass die Virtual-Reality-Erfahrung »einen Meilenstein in der Aufrechterhaltung unserer notwendigen Erinnerungskultur setzen kann«, wie er zum Start des Projekts sagt.
Die Präsentation kann vom 29. Juni bis 31. Oktober 2022 freitags jeweils von 12 bis 16 Uhr in der ehemaligen Häftlingswäscherei in der Gedenkstätte Sachsenhausen genutzt werden.
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