• Politik
  • Britisches Engagement in der Ukraine

Eine besondere Beziehung

Warum Großbritannien schon seit Jahren militärisch eng mit der Ukraine zusammenarbeitet

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 17. Juni war Boris Johnson plötzlich wieder in Kiew. Eigentlich hätte der Premierminister an jenem Tag bei einem Parteianlass in Nordengland auftreten sollen, stattdessen stattete er Präsident Wolodymir Selenskj einen Überraschungsbesuch ab – immerhin konnte er sich sicher sein, dort enthusiastisch begrüßt zu werden. Johnson gelobte, der Ukraine weiterhin militärische Hilfe bereitzustellen, und Selenskj dankte dem Premier für die »beispiellose Unterstützung«, die die britische Regierung seit Beginn der russischen Invasion geleistet habe.

Großbritannien sticht als einer der treusten westlichen Alliierten der Ukraine heraus. Das ist nicht dem jetzigen Premierminister geschuldet. Die besonderen Beziehungen zwischen den beiden Ländern gehen Jahre zurück. Man könnte in den frühen 1990er Jahren anfangen, als die Ukraine ihre Unabhängigkeit wiedererlangte. Damals wurde Großbritannien – wie alle westlichen Atommächte – von der Sorge geplagt, was mit den nuklearen Sprengköpfen passieren würde, die nun außerhalb der Russischen Föderation lagen: in der Ukraine, in Kasachstan und in Belarus. Etwa ein Drittel des ehemaligen sowjetischen Arsenals waren auf ukrainischem Territorium stationiert. So wurde 1994 eine Vereinbarung getroffen: Die Ukraine, Kasachstan und Belarus verzichten auf Nuklearwaffen, im Gegenzug soll ihre Sicherheit, Souveränität und Unabhängigkeit von drei Mächten garantiert werden: Russland, Großbritannien und USA.

Die strategische Bedeutung der Ukraine für Großbritannien nahm im Lauf der 2000er-Jahre zu. Damals kühlte sich Londons Verhältnis zu Moskau ab. Die Ermordung von Alexander Litwinenko 2006 in der britischen Hauptstadt führte zu einer ersten diplomatischen Krise. Der Dissident und frühere russische Geheimdienstmitarbeiter war in einer Hotelbar mit Polonium vergiftet worden – die britische Regierung war sicher, dass das Putin-Regime den Auftrag gegeben hatte. Es folgten die Ausweisung russischer Diplomaten, die Beschränkung von Visa für russische Regierungsvertreter und die fast komplette Einstellung der Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten beider Länder.

Der russisch-georgische Krieg zwei Jahre später zerrüttete das Verhältnis noch mehr – der damalige Außenminister David Miliband sprach auf einer Rede in Kiew von einem »bösen Erwachen«. Er warf Russland vor, nach einer einseitigen Verschiebung der Landesgrenzen zu trachten. Auch in der Ukraine war man alarmiert: Die Regierung bemühte sich verstärkt, eine engere Beziehung zur Nato aufzubauen – und stieß besonders in London auf offene Ohren. Die Labour-Regierung unter Tony Blair sprach sich dafür aus, die Ukraine in das Verteidigungsbündnis aufzunehmen. Die »strategische Partnerschaft« zwischen beiden Ländern wurde erstmals in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten. Britische Armeeangehörige begannen, die ukrainischen Streitkräfte zu beraten und auszubilden.

Zu Beginn seiner Regierungszeit versuchte David Cameron (2010 bis 2016), das Verhältnis zu Russland etwas zu entspannen. Aber 2014, als Russland die Krim annektierte und in der Ostukraine intervenierte, kam das Tauwetter zum abrupten Ende. Ab jetzt wurde Russland sowohl in London wie auch im Rest Westeuropas als zunehmende Gefahr wahrgenommen.

Als einer der drei »Sicherheitsgarantoren« von 1994 fühlte die britische Regierung eine besondere Verantwortung gegenüber der Ukraine. »In den letzten Jahren als Mitglied der EU präsentierte sich Großbritannien als das führende Land in einer Gruppe von Mitgliedstaaten, die eine harte Haltung gegenüber Russland einnahmen«, schreibt das Branchenmagazin UK Defence Journal. London stärkte die ökonomische Zusammenarbeit mit Kiew und Großbritannien wurde gemeinsam mit den USA zum wichtigsten Sicherheitspartner der Ukraine. Die militärische Kooperation intensivierte sich in den folgenden Jahren sukzessive.

Bereits Ende 2014 schickte London eine erste Tranche an Militärgeräten und logistischer Unterstützung in die Ukraine, weitere folgten 2015. Unter dem Codenamen Operation Orbital begann Großbritannien zudem ein Ausbildungsprogramm für die ukrainischen Streitkräfte, mit dem Ziel, deren Fähigkeiten zur Landesverteidigung zu stärken. Laut dem britischen Verteidigungsministerium sind dabei bislang mehr als 18 000 ukrainische Soldaten ausgebildet worden.

Das Verhältnis zu Russland war bereits frostig, als es im Frühling 2018 zu einem weiteren Mordversuch auf britischem Boden kam: Sergej Skripal, der Ende der 1990er-Jahre als Doppelagent für die Briten gearbeitet hatte, wurde in Salisbury mit dem Nervenkampfstoff Novitschok attackiert. Er und seine Tochter überlebten, aber eine unbeteiligte Person kam dabei ums Leben. Wenig später veröffentlichte die britische Regierung ein Update zu ihrer Sicherheitsstrategie, in der sie Russland explizit als Gefahr für die britische Sicherheit nennt.

Im September 2020 kündigte London an, die Operation Orbital auf die Ausbildung der ukrainischen Seestreitkräfte im Schwarzen Meer auszudehnen. Im folgenden Sommer wurde die Lieferung von Flugkörpern und Kriegsschiffen vereinbart. Gegen Ende 2021, als russische Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschierten, lancierte Großbritannien ein Kreditprogramm für den Kauf von Kriegsgerät durch die Ukraine.

Militärisch hat Großbritannien in den vergangenen Jahren einen wichtigen Beitrag geleistet, um die ukrainische Widerstandsfähigkeit zu stärken. Doch zur gleichen Zeit hat die britische Regierung dafür gesorgt, dass Kreml-nahe Oligarchen mit offenen Armen empfangen wurden. »Unsere Anwälte haben ihre Interessen verteidigt, unsere Buchhalter haben ihre Abrechnungen gemacht, und unsere Briefkastenfirmen haben ihre Vermögen geschützt«, schreibt der Journalist Oliver Bullough, ein Experte für schmutziges Geld. »Die Fähigkeit des Kremls, Krieg zu führen, hängt vom Reichtum ab, den er angehäuft hat. Und diesbezüglich tragen wir einen Teil der Verantwortung.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -