Experimentieren mit linken Traditionen

Das Musikerinnenduo Silvia Tarozzi und Deborah Walker interpretiert populäre italienische Volkslieder neu

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 4 Min.
Das Albumcover von »Canti di guerra, di lavoro e d’amore«
Das Albumcover von »Canti di guerra, di lavoro e d’amore«

Eine Frauenstimme beginnt »Sebben che siamo donne« (Obwohl wir Frauen sind) zu singen, dann stimmen weitere und immer mehr Frauenstimmen ein: »Paura non abbiamo« (haben wir keine Angst), »Per amor dei nostri figli« (Zum Wohle unserer Kinder) – und in der letzten Zeile: »In lega ci mettiamo« (haben wir uns in ein Bündnis eingebracht). Die raffiniert aus Samples zusammengesetzte Fülle der unterschiedlichen Stimmen des italienischen Frauenchors »Coro delle mondine di Benivoglio« wird immer intensiver, exaltierter und dramatischer. Violine und Cello stimmen mit einer Art Orgelpunkt ein, das Lied wird noch kraftvoller und steigert sich schier unendlich. Das erinnert etwa an die aufwühlende Szene im Film »1789« der französischen Regisseurin Ariane Mnouchkine, in der viele unterschiedliche Figuren von kleinen Podesten aus engagiert ihr Revolutionserlebnis schildern – es entsteht ein vielstimmig choreografierter, faszinierender Gesamteindruck.

In der Kanzone »La lega« wird die aufgeregte und aufregende Vielstimmigkeit in der letzten Strophe auf die Spitze getrieben, indem sich die Soprane über die anderen Stimmen legen: »e noialtri lavoratori« wiederholen sie alle – und wir Arbeiter*innen –, um schließlich in die Zeile »Und wir Arbeiter*innen wollen Freiheit« zu münden. Plötzlich ist das wunderbare »la libertà« unisono zu hören; all die unterschiedlichen Frauen sind einig im Ziel. Die Arbeiter*innen wollen und fordern: Freiheit!

Das Lied »La lega« ist ein altes, aus dem frühen 20. Jahrhundert stammendes Kampflied der Mondine, der Reisfeldarbeiterinnen in der Emilia-Romagna, eine der traditionell linken Regionen Italiens. Diese Frauen, die monatelang auf den Reisfeldern und bei der Reisreinigung in Gemeinschaft lebten und arbeiteten, entwickelten ein umfangreiches und vielfältiges Repertoire an Liedern, die sich mit ihrer sozialen und historischen Situation auseinandersetzen. Sie alle zeichnen sich durch Mehrstimmigkeit und einen kraftvollen Gesang aus.

Dieses Vermächtnisses haben sich nun die Geigerin Silvia Tarozzi und die Cellistin Deborah Walker angenommen. Zusammen bilden die beiden Italienerinnen ein renommiertes Duo, das sich seit Langem vor allem mit improvisierter und zeitgenössischer Musik auseinandersetzt. Auf ihrem neuen Album »Canti di guerra, di lavore e d’amore« spielen sie nun italienische Volkslieder aus der Region, aus der sie stammen, aus einer Zeit vom frühen 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Lieder handeln vom Krieg, von der Arbeit, aber auch von der Liebe. Sie spiegeln die widerständige und sozialistische, nicht zuletzt auch die feministische Tradition der Arbeiterklasse in der Emilia-Romagna wider.

Das kraftvolle, die Gemeinschaft und vor allem die Freiheit feiernde »La lega« ist sicher einer der Höhepunkte dieses durchweg faszinierenden Albums. Andere Lieder handeln vom Partisanenkampf gegen die Faschisten (auch Mussolini kam übrigens aus der Emilia-Romagna), so das berührende »Pietà l’è morta« des Partisanen Nuto Revelli aus dem Jahr 1944 oder das eindrucksvolle »Il bersagliere ha cento penne«, das ein traditionelles Militärlied mit einem neuen Text überschreibt und mit den Zeilen endet: »Denn wenn ein Mann frei stirbt, / was macht es da schon aus zu sterben?«

Die nigerianische Gospelsängerin Ola Obasi Nnanna interpretiert dieses Lied auf dem Album ganz schlicht und frei von billigem Pathos, begleitet von den mal umspielenden, mal grundierenden Streicherklängen sowie einer Mbira, einem afrikanischen Zupfinstrument. Andere Lieder spielen Tarozzi und Walker nur instrumental, immer geprägt von einer zurückgenommenen Kargheit und Strenge, mit der sie neue Klänge evozieren, die mitunter weit von der Tradition entfernt und in der zeitgenössischen Musik verwurzelt sind.

Die beiden Musikerinnen und ihre Gäste kreieren, wie sie selber sagen, ein »emotionales Territorium, in dem die Tradition zwischen mündlicher und notierter Musik neu erfunden und transformiert wird«. So werden frühere Kämpfe zu neuem Leben erweckt und aktualisiert. Die Lieder schärfen das Bewusstsein dafür, dass alle, die sich für eine gerechtere Welt einsetzen, ihre Kämpfe auf den Schultern von starken Vorgängerinnen ausfechten. In Zeiten der Ungleichheit verbinden Tarozzi und Walker so Gegenwart und Zukunft mit der Vergangenheit. Ein grandioses, Mut und Hoffnung machendes Album!

Silvia Tarozzi, Deborah Walker: »Canti di guerra, di lavoro e d’amore« (Unseen Worlds)

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