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Defekter Notruf mit tödlichen Folgen
Untersuchungsausschuss zu Hanau beschäftigte sich mit Verfehlungen der Polizei
In der Sitzung des Hanau-Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags zu den rassistischen Morden vom 19. Februar 2020 ging es am Montag um das Notrufsystem der Polizeistation Hanau. Seit 2003 war auf höchster Ebene bekannt, dass das System Lücken aufweist. In der Nacht des Attentats versagte es abermals. Der Notruf war nicht erreichbar. Hanauer Polizist*innen wussten das und hatten bereits lange vor dem Anschlag mehrfach Verbesserungen in der Notruf-Organisation angemahnt.
Eines der Attentatsopfer, der 22-jährige Vili-Viorel Păun, war dem Attentäter gefolgt, nachdem dieser auf sein Auto geschossen hatte. Währenddessen wählte er dreimal zwischen 21:57 und 21:59 Uhr erfolglos die Nummer 110, bevor er vom Attentäter Tobias R. in seinem Auto erschossen wurde.
Der Dienststellenleiter der Polizei, Marc Blume, berichtete im Ausschuss von einer notwendigen Abwägung in Notsituationen. Nimmt man weitere Notrufe an oder schickt man das ganze vorhandene Personal raus? Letztlich war nur noch ein Notrufplatz besetzt. Grundsätzlich hätte er Păun geraten, auf Distanz zu gehen und sich nicht selbst zu gefährden, sagte Blume. Zu diesem Gespräch kam es aber nicht. Die veraltete Technik und die personelle Besetzung haben dies unmöglich gemacht. Aus polizeilicher Sicht, erklärte Blume, sei der Einsatz an dem Abend sehr gelungen gewesen. Als sie das hörte, brach Dijana Kurtović, die Mutter des Attentatsopfers Hamza Kurtovic, zusammen und verließ weinend den Saal.
Mag sein, dass aus Sicht des Dienststellenleiters der Einsatz gelungen war. Was aber, wenn Păun den Notruf erreicht und dieser ihn aufgefordert hätte, sich in Sicherheit zu bringen und den Täter nicht mehr allein zu verfolgen? Er wäre am Leben geblieben. Deswegen hat sein Vater Niculescu Păun gegen die eingesetzten Beamten Strafanzeige wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung erstattet.
Martin Links, der Staatsanwalt aus Hanau, bekräftigte seine Anteilnahme mit den Angehörigen. Dann ging es um die technische Ausstattung der ISDN-Notrufe. Nach der Zusammenlegung der beiden Polizeibehörden in Hanau und Offenbach zum Polizeipräsidium Südosthessen sind beide Führungs- und Lagedienste zu einem rund um die Uhr besetzten Sitz in Offenbach verschmolzen. Die Zentrale in Hanau wurde geschlossen. Die Notrufleitungen wurden nicht, wie üblich, in die Zentrale nach Offenbach, sondern einfach auf die Polizeistation Hanau-Stadt im Erdgeschoss umgeleitet. Somit war nur eine Polizeistation für die Entgegennahme der Notrufe aus dem gesamten Altkreis Hanau mit rund 200 000 Einwohnern zuständig. Die Hanauer Staatsanwaltschaft hatte festgestellt, dass die in Hanau installierte Technik veraltet gewesen war. Auch Standards wie eine Weiterleitung der Notrufe an andere Zentralen im Falle der Überlastung fehlten.
Die Polizei in Hanau war in vielen Fällen nicht über 110 erreichbar. Mehr als zwei Telefonate konnten nicht gleichzeitig bearbeitet werden. Auch bei der Polizei beschäftigte man sich mit einer Verbesserung der Infrastruktur. Die Polizei AG Modernisierung wünschte sich seit 2007 eine Zentralisierung. Auf diese musste aber lange gewartet werden. Seit 2009 gab es Umzugspläne in ein neues Gebäude. Das Projekt habe sich verzögert, so Staatsanwalt Links. Aus 2013 wurde 2021.
Links wies den Vorwurf zurück, dass der Anschlag am zweiten Tatort hätte verhindert werden können. Wäre Păun mit seinem Anruf durchgekommen, hätte er erst aufgeregt erklären müssen, er hätte nicht gewusst, wohin die Fahrt ging. Die Streife wäre niemals rechtzeitig dagewesen. Aus seiner Sicht hat es keinen Sinn, »sich möglichst günstige Abläufe zu denken«. Der Staatsanwalt betonte mehrfach, er sei kein zynischer Mensch. Es sei zwar schmerzhaft, aber eine hypothetische Kausalität habe keinen Platz in diesen Überlegungen.
Niculescu Păun möchte aber wissen, wer schuld am Tod seines Sohnes ist und was genau in der Attentatsnacht passierte. »Wenn es einen richtigen Prozess gibt, gehen mindestens fünf Leute ins Gefängnis, aber wir sehen es hier im Ausschuss, keiner wird belangt«, sagte er.
Für die Linke-Obfrau Saadet Sönmez liegt offensichtlich ein »katastrophales Organisationsversagen« vor, auch wenn bisher kein Organisationsverschulden im strafrechtlichen Sinne ermittelt werden konnte. Aus ihrer Sicht handelt es sich um ein Versagen auf politischer Ebene.
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