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Wahlkreissieger nicht mehr sicher drin?
Koalitionsfraktionen preschen mit Eckpunkten für Wahlrechtsreform vor, die es in sich haben
736 Abgeordnete sitzen in dieser Legislaturperiode im Bundestag, so viele wie noch nie. Das Parlament wächst immer weiter und wird dadurch auch teurer. Eine Entwicklung, die einen simplen Grund hat: Weil sich die Parteienlandschaft mit der Zeit immer weiter ausdifferenziert hat – Grüne, PDS/Linke und AfD sind hinzugekommen –, gewinnt bei heutigen Bundestagswahlen eine Partei mit tendenziell deutlich weniger Prozenten als noch vor 30, 40 Jahren. Gleichzeitig gibt es weiterhin Parteien, allen voran CDU und CSU, die sehr viele Direktmandate gewinnen. Dadurch entstehen viele Überhangmandate, die wiederum ausgeglichen werden müssen, damit das Parlament auch tatsächlich nach den Zweitstimmenanteilen besetzt wird. Die meisten Expert*innen sind sich deshalb einig: Um zu verhindern, dass immer neue Rekorde gebrochen werden, braucht es eine Reform des Wahlrechts. Nur: Wie soll die aussehen? Darüber gehen die Meinungen auseinander.
Noch in diesem Jahr will die Ampel-Koalition eine Wahlrechtsreform durch den Bundestag bringen, das haben SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag vereinbart. Darin heißt es: »Wir werden innerhalb des ersten Jahres das Wahlrecht überarbeiten, um nachhaltig das Anwachsen des Bundestages zu verhindern.« Laut Sebastian Hartmann, dem innenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, wolle man das Gesetzgebungsverfahren im September beginnen und bis zum Jahresende zum Abschluss bringen. Dabei würde man den normalen Verfahrensweg einhalten und nicht auf Fristverkürzungen zurückgreifen.
Am Dienstag nun wollten die Koalitionsfraktionen Eckpunkte für die Reform verabschieden (nach Redaktionsschluss). Wichtigster Punkt: Der Bundestag soll künftig auf 598 Mandate beschränkt werden, Überhang- und Ausgleichsmandate sollen komplett wegfallen. Das könnte allerdings dazu führen, dass nicht mehr jede*r Wahlkreissieger*in automatisch ins Parlament einzieht. Erreicht künftig eine Partei in den weiterhin 299 Wahlkreisen mehr Direktmandate, als ihr nach ihrem Zweistimmenanteil zustehen, sollen davon diejenigen mit dem niedrigsten Erststimmenanteil in einem Bundesland abgezogen werden. Nennt sich: Kappungsmodell. Da aber weiterhin alle Wahlkreise im Bundestag vertreten sein sollen, gibt es die Idee, dass in den von der Wahlrechtsreform betroffenen Kreisen mittels einer dritten Stimme ein*e alternative*r Kandidat*in zum Zuge kommen soll. Heißt: Die Wähler*innen können eine Zweitpräferenz für das Direktmandat angeben.
Das klingt wahnsinnig kompliziert, aber: Zumindest wäre dann der gesamte Bundestag nach den Zweistimmenanteilen der Parteien besetzt, nur eben mit jeweils weniger Mandaten. »Uns ist wichtig: Alle Parteien müssen im gleichen Maße Sitze abgeben«, sagt Till Steffen, Grünen-Obmann in der Wahlrechtskommission. Anders sieht das beim von der Union favorisierten Grabenwahlsystem aus: Nach diesem Modell soll nur noch die Hälfte der 598 Sitze nach den Parteipräferenzen besetzt werden, die andere Hälfte mit den 299 Wahlkreissieger*innen – unabhängig von den Zweitstimmen. Dieses Vorgehen ist nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 grundsätzlich möglich, allerdings hat es eine entscheidende Schwachstelle: Das System bevorzugt in hohem Maße die stärkste politische Kraft, die eine große Zahl von Direktmandaten erwarten kann, ohne dass diese wie bisher bei der Sitzverteilung nach den Zweitstimmenanteilen verrechnet werden müssten. Das wären häufig welche Parteien? Genau, CDU und CSU, die sich quasi selbst helfen würden. Hätte dieses System bei der Bundestagswahl 2017 gegolten, hätten sie die absolute Mehrheit erreicht.
Die Union hält dagegen, dass eine Nichtberücksichtigung bestplatzierter Kandidat*innen in den Wahlkreisen gegen demokratische Grundsätze verstoße, und droht mit Verfassungsklage gegen das Ampel-Modell. Die Regierung habe sich nicht an die Verabredung gehalten, »dass wir uns zunächst einmal um einen gemeinsamen Vorschlag zur Reform des Wahlrechts bemühen«, beklagte Unionsfraktionschef Friedrich Merz am Dienstag im Bundestag. Auch Linksfraktionschefin Amira Mohamed Ali hat »verfassungsrechtliche Bedenken«, wie sie in Berlin sagte: Der Vorschlag der Koalition führe zu einer »faktischen Entwertung von Stimmen«. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch bezeichnete den Vorschlag der Ampel dagegen als Einladung an die Opposition: Er schließe »nicht aus, dass wir am Ende bei einem Modell landen, wo dann doch mehrere noch sagen: Da machen wir mit«, sagte Miersch am Dienstag. Allerdings: In den letzten Jahren habe sich in puncto Wahlrecht »nichts bewegt«.
Bleibt noch die Frage, was mit der Grundmandatsklausel passiert. Von der profitierte bekanntermaßen Die Linke bei der Bundestagswahl 2021, als sie nur aufgrund dreier Direktmandate erneut ins Parlament einzog. »Die Grundmandatsklausel wollen wir beibehalten«, stellt Till Steffen gegenüber dem »nd« klar. Davon würde übrigens auch die CSU profitieren, die nur in Bayern antritt und deshalb leicht unter fünf Prozent rutschen kann, allerdings stets mehr als drei Direktmandate in ihrer Heimat holt.
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