Europa im Heuschober

Am Sonntag ist in Bozen das 40. Südtirol Jazzfestival zuende gegangen: es gab berauschend-experimentelle Musik - an ungewöhnlichen Orten

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 5 Min.
Rauf auf die Hütten - mit 25 Kilogramm schweren Instrumenten in den Rucksäcken: Johannes Bär und Matthias Schriefl
Rauf auf die Hütten - mit 25 Kilogramm schweren Instrumenten in den Rucksäcken: Johannes Bär und Matthias Schriefl

Wenn an der leisesten Stelle eines Konzertes ein Hahn kräht, und es sich nicht um einen Klingelton handelt – dann befindet man sich wohl auf einem Bauernhof. «Agriturismo»: in Italien steht der Begriff für mehr als nur für die Beherbergung von Gästen. Für Familie Kaibitsch bedeutet es regionale Küche in Bioqualität – und jede Woche eine Kulturveranstaltung. Am norditalienischen Stanglerhof wird immer Donnerstags ein Film gezeigt oder ein experimentelles Konzert veranstaltet. Für das Südtirol Jazzfestival macht man auch am Dienstag Programm, hier, unterhalb vom Schlern, dem charakteristisch wuchtigen Westpfeiler der Dolomiten.

Es ist ein wolkenverhangener Tag, draußen wechseln sich Regen und Sonne ab, als die Türkin Sanem Kalfa und die Mexikanerin Fuensanta Méndez den umgebauten Heuschober des Stanglerhofs betreten. Beide sind Sängerinnen, Instrumentalistinnen und Komponistinnen aus Amsterdam, beide führen gleich mehrere Bands an – und beide wurden eingeladen, eine fünftägige Arbeits-Residenz in der pittoresken Landschaft der Südalpen zu bestreiten.

Kalfa schließt die Augen, Méndez blickt auf ihre Hände: eines von 56 Konzerten der 40. Ausgabe des Südtirol Jazzfestivals beginnt.

«Ich wollte keine Musiker, die kurz vorbei kommen und am nächsten Tag wieder davonfliegen», sagt Klaus Widmann einen Tag später. «Ich komme selbst aus einer großen Familie, und so habe ich mir auch ein Festival vorgestellt: mit Musikern, die gemeinsam Mittag und Abend essen, die gemeinsam Projekte entwickeln.» Der Mediziner Widmann ist seit 2004 ehrenamtlicher Präsident des Festivals, engagiert sich dort aber bereits seit den Achtziger Jahren. Seine Idee war es, zu jeder Ausgabe experimentierfreudige Musiker*innen einzuladen, die mit verschiedenen Besetzungen spielen und aus bestimmten Ländern stammen. 2022 ist der Schwerpunkt allgemein gehalten: «Europa».

So kann man nun an den 30 Spielorten rund um Bozen gleich mehrfach den Schweizer Vokalkünstler Andreas Schaerer erleben, den US-stämmigen, in Italien lebenden Saxophonist Dan Kinzelman, oder den britischen Saxophonisten Soweto Kinch. Kinch, 43, hat einer jungen Schlagzeugerin den Vortritt gelassen: statt seinen eigenen, deutlich bekannteren Namen zu nutzen, tritt der Londoner mit der 17 Jahre jüngeren als Jas Kayser Duo auf. Keinem der im Bozener Kapuzinerpark versammelten Fachjournalisten ist Kayser zuvor ein Begriff gewesen; nun zeigt die Drummerin mit heftigen Breakbeats und satten Bassdrum-Hits, dass Kinch gute Gründe hatte, sie zu wählen. Der Saxophonist spielt lange, melodische Bop-Soli und zeigt immer wieder unvermittelt seine zweite Begabung: den Freestyle-Rap. Der Park im Bozener Zentrum ist nur mäßig gefüllt, doch Kinch ist bester Laune, lässt sich vom von der Sommerhitze betäubten Publikum Begriffe zuwerfen, über die er improvisiert – fulminant.

Es ist beinahe Mittag und Klaus Widmann sitzt auf einer windschiefen Holzbank im Garten des Toggenburg Palais’. Hier, hinter der Sommerresidenz feiner Tiroler Adliger, hat das italienische Quartett Tellkujira soeben ein einstündiges Set absolviert – düsterer Industrial bei 28 Grad im Schatten, begleitet von Vogelzwitschern. Ein Kontrast mit beinahe hypnotischer Wirkung.

«Ich bin ziemlich abenteuerlustig»« sagt der 69-jährige Widmann über seine Künstler*innenauswahl. »Und das Abenteuer muss weiterleben, sonst droht Jazz, eine tote Musik zu werden, eine klassische Musik, die nur noch museal weiterlebt. Ich mag Pop, habe aber schon mit 16 aufgehört, dort nach gewissen Dingen zu suchen – deshalb bin ich zu komplexerer Musik gewechselt.«

Jeden Morgen um acht Uhr steht Widmann in seiner Praxis – auch während des Festivals. Die Jubiläumsausgabe 2022 ist seine letzte. Der Allgemeinarzt hat Vertrauen in das deutlich jüngere Produktionsteam um Max von Pretz und Roberto Tubaro, die das Südtirol Jazzfestival mit erstaunlicher Gelassenheit leiten.

Widmann selbst wird sich nun mehr dem Wandern und Radfahren widmen – und dem Entdecken neuer Orte: »Ich bin genau wie in der Musik immer explorativ unterwegs, mache Wanderungen und Skitouren, entdecke Täler, Schlösser und Wirtschaften. Selbst die Südtiroler lernen manche Konzert-Locations erst über das Festival kennen.«

Wolkenstein in Gröden dürfte nicht dazu zählen. Die von massiven Felswänden überragte Terrasse eines Gasthofs ist ein beliebtes Ausflugsziel – und während des Festivals der Endpunkt einer dreitägigen »Hike & Jazz«-Tour, die die Multiinstrumentalisten Matthias Schriefl und Johannes Bär über tausende Höhenmeter und mehrere Hütten führte – mit 25 Kilogramm schweren Instrumenten in den Rucksäcken. Nun schrauben sie ihre meterlangen Alphörner (»Die sind gut fürs Fersen-Chakra!«) zusammen und spielen in Lederhosen vor blühenden Wiesen. Eine Blasmusi-Klischeekulisse, die die beiden schnell zerstören: mit selbstironischen Witzen, Beatboxing, feinen Trompeten-Soli, und akustischem Techno.

Weitere Höhepunkte des Festivals: das experimentelle, brutale und schlussendlich zarte Noise-Duo von der Leipziger Gitarristin Steffi Narr (»Was Jazz ist? Da fehlen mir die Worte, das kann ich nur mit Energie-Zuständen beschreiben.«) und dem Berliner Schlagzeuger Oliver Steidle im kühlen Keller eines 800 Jahre alten Gebäudes mitten in Bozen; und das feinfühlige Trio Nerovivo von Evita Polidoro. Von den Songs der jungen Schlagzeugerin, die schon mit Dee Dee Bridgewater tourte, gibt es nirgendwo im Web brauchbare Aufnahmen. Höchste Zeit dafür. Denn die Italienerin komponiert atemberaubend schöne Post-Rock-Stücke, trommelt mit Feeling und Einfallsreichtum, und singt, als sei sie mit Radioheads Thom Yorke verwandt.

Dienstagabend am Stanglerhof. Hinter der Nonsberggruppe verschwindet die Sonne, der Fels oberhalb der Wiesen ist in Wolken getaucht. Im ehemaligen Heuschober hängt ein Spruch an der Wand: »Provinz ist kein Ort, sondern ein Zustand«. Die Familie Kaibitsch holt sich die weite Welt einfach in den Stanglerhof. So servieren die Landwirte hier nicht bloß Kartoffelgratin und Schokoladenkuchen, sondern auch einen famosen Minz-Orangen-Linsensalat, und ein Gazpacho, das man in Spanien kaum besser hinbekommen wird. Natürlich aus selbst gezogenem Gemüse.

Musikalisch bereichern eine türkische Cellistin und eine mexikanische Kontrabassistin das Publikum. Sanem Kalfa und Fuensanta Méndez absolvieren ein Konzert von leiser Schönheit, irgendwo zwischen Pop, Folk und Jazz. Ihre Instrumente bleiben nachrangig, vor allem die Gesangsharmonien auf Englisch und Spanisch sind betörend. Vom Hahnenkrähen lässt sich keine der beiden beirren. 

Nach dem Konzert steht Sanem Kalfa draußen, erleichtert, ein Glas Weißburgunder in der Hand. »Ich kann überhaupt kein Spanisch«, lacht die Wahl-Amsterdamerin. Sie hat improvisiert – und somit das getan, was im Kern den Jazz ausmacht. Oder wie auch immer man diese berauschend-experimentelle Musik nennen mag.

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