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»Die Integrationsmaßnahmen für Ukrainer sollten Blaupause sein«
Staatsministerin Reem Alabali-Radovan sieht in einer besseren Einwanderungspolitik den Schlüssel für gesellschaftlichen Zusammenhalt
Frau Staatsministerin, nach Einschätzung zahlreicher Expert*innen wird die Migration in die EU – auch aufgrund globaler Krisen – zunehmen. Was, wenn Fluchtbewegungen zum »Normalzustand« werden und die Solidarität in der Gesellschaft schwindet?
Migration und Flucht gab es immer schon. Darum müssen wir einerseits die Fluchtursachen weltweit bekämpfen. Andererseits müssen wir Migration und alles, was mit ihr zusammenhängt, aktiv angehen und gestalten. Mit legalen Wegen der Einwanderung, mit Arbeits- und Fachkräftegewinnung, mit Integration von Anfang an. In unserem Land haben wir alle Möglichkeiten, dass Menschen gut ankommen, sich einbringen und Teil unserer Gesellschaft werden können. Die Solidarität der Gesellschaft ist dabei wichtige Grundlage für das Gelingen. Und es wird gelingen, wenn wir es gut gestalten, wenn wir endlich ein modernes Einwanderungsland werden. Mit Teilhabe, Partizipation und Gesetzen, die auf der Höhe der Zeit sind. Mit Respekt und Humanität. Menschen brauchen Chancen und faire Perspektiven.
Laut IOM hat sich 2021 die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen oder vermissten Geflüchteten im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt – in diesem Jahr sind es bereits 810. Was tun gegen das Sterben vor Europas Haustür?
Die Flucht über das Mittelmeer ist eines der großen, komplexen Themen der europäischen Politik. Seit Jahren wird in der EU eine gemeinsame europäische Lösung gesucht, die einzelne Staaten blockieren. Deutschland ist mit Italien, Frankreich und Malta vorangegangen, um das Sterben auf dem Mittelmeer und das unmenschliche Geschäft der Schleuser zu beenden. Innenministerin Nancy Faeser hat betont, dass Deutschland seinen Beitrag leisten wird, auch in einer Koalition der Willigen. Aber letztlich muss die gesamte EU mitziehen, ebenso die Mittelmeer-Anrainerstaaten in Afrika – für mehr legale Wege für Flüchtlinge, für Resettlement und Relocation und natürlich für Perspektiven und Frieden in den Herkunftsstaaten, damit Menschen gar nicht erst zur Flucht gezwungen sind.
Sie wurden 1990 als Kind irakischer Eltern in Moskau geboren. Sechs Jahre später sind Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Inwiefern hat Sie Ihre eigene Zuwanderungsbiographie geprägt?
Wir kamen damals in die Erstaufnahmeeinrichtung von Mecklenburg-Vorpommern. Ich konnte sehr schnell in die Schule gehen, dort Deutsch lernen, Freunde finden – das war genau richtig. Meine Familie hat alles durchlaufen: Erstaufnahme, Asylantrag, das Bangen auf eine Entscheidung, die erste eigene Wohnung, das Zurechtfinden in der deutschen Gesellschaft, auch die Enttäuschung, dass die Ingenieurs-Abschlüsse meiner Eltern einfach nichts wert sein sollen; oder dass ich trotz guter Noten erstmal keine Schulempfehlung fürs Gymnasium bekam. Diese Erfahrungen und vor allem meine spätere berufliche Erfahrung in der Erstaufnahme und als Integrationsbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern helfen mir jetzt in meinem Amt in der Bundesregierung. Ich weiß, was die Menschen, die hier ankommen, durchmachen; was sie brauchen, damit sie gut ankommen können.
Geflüchtete Menschen aus der Ukraine erhalten unmittelbar nach ihrer Ankunft Zugang zum Arbeitsmarkt – Menschen aus Syrien oder Afghanistan hingegen nicht. Gibt es in Deutschland Geflüchtete erster und zweiter Klasse?
Nein, aber ich kann nachvollziehen, dass vor allem die Geflüchteten, die schon länger hier sind, das Gefühl bekommen, es wäre so. Jemand, der viele Behördengänge machen muss, ein Asylverfahren durchläuft, wartet, hofft, der kann enttäuscht sein, wenn er jetzt sieht: Es geht auch anders, schneller, offenherziger, smarter. Die Geflüchteten aus der Ukraine müssen dank eines historischen Schulterschlusses innerhalb der EU keine langwierigen Einzelverfahren durchlaufen. Die Aufnahme von und die Integrationsmaßnahmen für Menschen aus der Ukraine sollten deshalb eine Blaupause sein: Wir können eine bessere Einwanderungs- und Integrationspolitik machen. Davon profitieren alle und das stärkt den Zusammenhalt. Wir dürfen die Geflüchteten aus anderen Regionen der Welt nicht vergessen. Und das tun wir auch nicht: Denn es ist weder human noch sinnvoll, wenn Menschen, die jahrelang hier geduldet sind, kaum Rechte haben und zum Herumsitzen gezwungen sind. Viele wollen arbeiten, für die Familie sorgen, sich ein Leben mit Perspektive aufbauen. Dafür sorgen wir jetzt mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht, das gerade vom Bundeskabinett beschlossen wurde.
Das gesamte Interview erschien zuerst auf der Website von Gesichter der Demokratie: https://www.faces-of-democracy.org/reem-alabali-radovan
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