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Denkt an Äthiopien!
Der Bürgerkrieg in und um Tigray muss enden. Dazu braucht es diplomatische Anstrengungen von EU und USA.
Kaum ein Regent hat sein politisches Kapital in so kurzer Zeit verspielt wie der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed. 2019 erhielt er den Friedensnobelpreis, jetzt zählt ihn das »Time Magazine« zu den 100 einflussreichsten Menschen des Jahres 2022, weil er »die Saat für einen äthiopischen Bürgerkrieg gelegt« habe.
Seit Ahmeds Amtsantritt im April 2018 hat Äthiopien eine Reihe von Katastrophen erlebt: den Ausbruch von Covid-19, die schlimmste Dürre seit 40 Jahren und den Bürgerkrieg. Nirgendwo sonst wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit vertrieben; nach einem Bericht des Internal Displacement Monitoring Center waren es allein in diesem Jahr rund 5,1 Millionen. Nach Schätzungen der UN werden bald 23 Millionen Äthiopier auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein. Hilfsorganisationen zufolge befinden sich von den rund sieben Millionen Bewohnern der umkämpften Region Tigray fast eine Million in einem »hungerähnlichen Zustand«; der Rest ist auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine kam zu einem Zeitpunkt, als die ohnehin geringen Bemühungen der globalen Diplomatie um eine Lösung der komplexen Krise in Äthiopien ins Stocken geraten waren. Jetzt liegt die Priorität der Welt auf der Eindämmung der geopolitisch wichtigeren Krise. Die Ukraine hat für die USA und die EU Vorrang vor Äthiopien, und das ist eine Tragödie.
Der seit November 2020 andauernde Bürgerkrieg hat nicht nur unsägliches Leid über die Zivilbevölkerung der rebellischen Provinz gebracht, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Landwirtschaft zerstört. Tigray ist auch von der Telekommunikation, dem Bankwesen, dem Straßen- und Luftverkehr des Landes abgeschnitten; die regionalen Haushalte bekommen keine Zuweisungen mehr. Es ist fast so, als wäre Tigray nicht mehr Teil der äthiopischen Föderation.
Es gab zwar zahlreiche Bemühungen unter der Führung von EU und USA, das Regime von Ahmed zu einem dauerhaften Waffenstillstand und zur Wiederaufnahme politischer Verhandlungen zu bewegen. Doch das Ergebnis ist dürftig und zeigt die Unfähigkeit der globalen Diplomatie, eine solche Katastrophe bereits im Anfangsstadium aufzuhalten. Das Scheitern der Afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur im Rahmen der Afrikanischen Union, die ihren Sitz in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba hat, und die völlige Abwesenheit der regionalen Zwischenstaatlichen Behörde für Entwicklung sind unübersehbar. Der Grund für das Versagen liegt darin, dass der Krieg als schlichter militarisierter Kampf um die politische Macht behandelt wurde, der Ahmed als schnellen Sieger hervorbringen würde, dessen »Reformagenda« im globalen Westen Gefallen gefunden hatte.
Die Hauptursache des Krieges liegt jedoch in der ideologischen Kluft zwischen der Tigray People‹s Liberation Front (TPLF), die einst die nationale Politik unter der früheren Regierungspartei Ethiopian People‹s Revolutionary Democracy (EPRDF) dominierte, und der Prosperity Party von Ahmed. Es geht um das Wesen und die Identität Äthiopiens und das Schicksal seiner multinationalen Verfassung. Der Versuch von Ahmed, den äthiopischen Staat unter seiner – halb kapitalistisch, halb evangelisch inspirierten – Philosophie des »Medemer« neu zu errichten, hat das politische System im ganzen Land aufgewühlt, das fast drei Jahrzehnte lang vom linksgerichteten, staatsinterventionistischen EPRDF-Regime geprägt war. Bis heute hat Ahmed sein Ziel, die regionale Verwaltung von Tigray mit Unterstützung eritreischer Streitkräfte durch eine auf Bundesebene ernannte Führung zu ersetzen, nicht erreicht.
Es ist höchste Zeit, einen neuen Versuch zu starten, den Krieg zu beenden. Die USA und die EU, zwei der mächtigsten Verbündeten Äthiopiens, sollten nicht nur auf die humanitäre Krise reagieren, sondern die Ursachen bekämpfen. Sie müssen ihre Aufmerksamkeit auf die Diplomatie richten, um eine dauerhafte politische Lösung für Äthiopien zu finden. Die noch für Juli in Tansania angesetzten Friedensverhandlungen zwischen TPLF und der Regierung sind ein Hoffnungsschimmer – mehr noch nicht.
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