Grandios gescheitert und ohne Einsicht

Premierminister Boris Johnson hat politisches Chaos angerichtet und lässt sich mit seinem Abgang Zeit

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Er hielt eine Rücktrittsrede, ohne das Wort Rücktritt in den Mund zu nehmen. Von Selbsterkenntnis oder gar Reue für Lügen und Unfähigkeit war bei Boris Johnson nichts zu spüren. Stattdessen verlegte sich Großbritanniens Premierminister auf Beschimpfungen seiner innerparteilichen Gegner, die einem angeblichen Herdentrieb folgten. Mit der Ernennung neuer Kabinettsmitglieder zur Auffüllung der gelichteten Reihen in der Regierung, demonstrierte Johnson, dass er bis zur Wahl eines Nachfolgers im Herbst im Amt bleiben will. Für den 30. Juli plant der Schamlose von der Downing Street eine große Trauungsfeier mit Frau Carrie in der Dienstresidenz Chequers – finanziert aus Steuermitteln. Boris Johnson kann nicht aus seiner Haut.

Ein amtierender Nachfolger, etwa Johnsons Stellvertreter Dominic Raab, kommt nicht zum Zug. Der konservative John Major, zwischen 1990 und 1997 Amtsvorgänger als Premierminister, hatte dringend zu einem solchen klaren Bruch geraten. Doch dieses Schiff sei bereits abgefahren, meint Sir Geoffrey Clifton-Brown, Schatzmeister des Ausschusses der Konservativen, der das Wahlverfahren für die Nachfolge organisiert. Parlamentsneuwahlen sind ebenfalls unwahrscheinlich.

Dabei befindet sich das Land nach Johnsons fast drei Amtsjahren in einem chaotischen Zustand. Brexit und Teuerung setzen der Volkswirtschaft zu. Von den früheren EU-Partnern verlacht, fielen der Regierung ungesetzliche Handlungen wie ein Bruch des von Johnson unterschriebenen EU-Austrittsvertrags oder der Plan ein, Bootsflüchtlinge ohne Prüfung nach Ruanda auszuweisen.

Potenzielle Nachfolger des grandios Gescheiterten müssen nun ein Team hinter sich versammeln, bei Tory-Parlamentariern vorfühlen, ihnen Versprechungen machen und um Unterstützung bitten. Es gibt eine Reihe von Interessenten und es stehen Fraktionsabstimmungen über sie bevor, wobei die Kandidaten mit geringer Zustimmung ausscheiden. Erst nach Abschluss dieses langwierigen Prozesses treten die beiden Tory-Abgeordneten mit höchster Stimmenzahl zur endgültigen Wahl durch die Parteimitglieder an. Ein Sieger wird frühestens im September feststehen.

Zwei ehrgeizige Aspiranten haben bereits ihren Hut in den Ring geworfen: Tom Tugendhat, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses, und Suella Braverman, die als oberste Rechtsberaterin der Regierung – wie andere, die sich nun um Johnsons Nachfolge bemühen wollen – dem Premierminister trotz ständig neuer Skandale treu blieb. Bis zu dem Augenblick, in dem ihr das nicht mehr als vorteilhaft erschien. Tugendhat ist nicht durch Mitgliedschaft in der Regierung Johnson kompromittiert und vertritt den gemäßigten Parteiflügel. Allerdings war er kein Brexit-Anhänger, was ihm in den Augen vieler Tory-Politiker aber eher schaden als nützen wird. Im stockkonservativen »Daily Telegraph« versuchte Tugendhat jetzt, mit dem Ruf nach baldigen Steuererleichterungen beim rechten Flügel seiner Partei zu punkten, aber seine Wahlchancen bleiben gering. Von Bravermann hört man bisher nur, dass sie sich zur allgemeinen Überraschung das höchste Amt in der Regierung zutraut.

Die aussichtsreicheren möglichen Nachfolger haben sich der BBC zufolge noch nicht festgelegt. Rishi Sunak, bisher Finanzminister, und Sajid Javid, der das Gesundheitsressort leitete, haben möglicherweise einen Bonus, weil sie das sinkende Regierungsschiff mit ihrem Rücktritt in dieser Woche – wenn auch reichlich spät – verließen und klar für den Brexit eingetreten sind. Gleiches gilt für Verkehrsminister Grant Shapps, der im Vergleich aber ein politisches Leichtgewicht ist.

Der bei Tory-Abgeordneten und -Mitgliedern zurzeit beliebteste mögliche Kandidat für das Amt des Premiers ist Verteidigungsminister Ben Wallace. Durch die schnelle Hilfe für die Ukraine konnte er auf sich aufmerksam machen. Konkurrenz macht ihm Außenministerin Liz Truss, die sich in einem britischen Kampfpanzer ablichten ließ, um Erinnerungen an die »Eiserne Lady« Margaret Thatcher zu wecken. Truss will das Nordirland-Protokoll vom Unterhaus streichen lassen, um ihren früheren Widerstand gegen den Brexit vergessen zu machen. Auch Jeremy Hunt, Johnsons unterlegener Konkurrent von 2019 und danach kein Regierungsmitglied, will nach Aussage der BBC erneut antreten. Am weitesten rechts steht Steve Baker, bekanntestes Mitglied der Forschungsgruppe Europa, die eingefleischte Brexit-Enthusiasten um sich sammelt. Kurz: Das Rennen um die Johnson-Nachfolge ist eröffnet und offen.

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