Historischer Mietenwahnsinn

Vor 150 Jahren sorgte eine Zwangsräumung in der Berliner Blumenstraße für Proteste und Krawall. Die Konflikte um Wohnraum gibt es aber bis heute

  • Axel Weipert
  • Lesedauer: 7 Min.
Die soziale Frage war in der Geschichte Berlins immer auch mit der Wohnungsfrage verknüpft – wie hier um das Jahr 1900 auf einem Hinterhof in Moabit.
Die soziale Frage war in der Geschichte Berlins immer auch mit der Wohnungsfrage verknüpft – wie hier um das Jahr 1900 auf einem Hinterhof in Moabit.

Kämpfe gegen Wohnungsräumungen und verfehlte Stadtentwicklung sind in Berlin keineswegs ein neues Phänomen. Die Auseinandersetzungen reichen mindestens 150 Jahre zurück, und zu deren spektakulärsten Episoden gehören die Blumenstraßen-Krawalle vom Juli 1872. Über mehrere Tage war Berlin Schauplatz heftiger Zusammenstöße aufständischer Bevölkerung und der preußischen Ordnungsmacht. Auch mit Blick auf die heutige Situation lohnt es sich, an die Ursachen und Umstände des Protests zu erinnern.

Berliner Wohnungsnot

Berlin war im Zuge der Industrialisierung zu einem der politischen Zentren Europas geworden und die Bevölkerung wuchs rapide an. In den 1870er Jahren nahm die Zahl der Berliner*innen jährlich um etwa 40 000 zu. Lebten 1846 noch gut 400 000 Menschen in der Stadt, wurde 1877 bereits die Millionengrenze überschritten. Diese enorme Entwicklung zog eine Spekulationsblase nach sich, die zu einem horrenden Anstieg der Grundstückspreise führte und entsprechend dazu, dass Wohnraum in Erwartung weiterer Preissteigerungen viel zu wenig gebaut wurde.

Wenn doch neue Häuser errichtet wurden, waren es die berüchtigten Mietskasernen. Mit 300 Bewohner*innen pro Hektar war die Bevölkerungsdichte etwa dreimal so hoch wie heute. Wenig Licht, schlechte sanitäre Anlagen und vor allem die hoffnungslose Überbelegung – es waren katastrophale Wohnverhältnisse, die erst durch die Zusammenlegung von Wohnungen, eine neue Kanalisation und eine Reduzierung der Haushaltsgrößen verbessert wurden. Wer sich gar keine Wohnung leisten konnte, baute sich eine Bretterhütte am Stadtrand vor dem Kottbusser oder dem Frankfurter Tor. Auf diese Weise waren regelrechte Slums entstanden, wie sie heute in vielen Städten des Globalen Südens zu finden sind.

Doch auch als reguläre Mieter*innen besaßen die Menschen kaum Rechte. Mietverträge wurden meist nur für wenige Monate abgeschlossen, danach war ein saftiger Aufschlag zu zahlen. Das sorgte für eine hohe Fluktuation in den Wohnungen, und die Straßen waren oft mit Möbelwagen aller Art vollgestopft. Die Verträge enthielten zudem Klauseln, die das Halten von Haustieren oder Untervermietung verboten. So war schnell ein Grund gefunden, die Mieter*innen vor die Tür zu setzen. Das übernahm dann ein sogenannter Executor (Gerichtsvollzieher), der sogar den Hausstand pfänden konnte.

Ein Betroffener schilderte, wie eines Tages der Executor vor der Tür stand und die Familie binnen weniger Augenblicke mit einigem Hab und Gut ihr Heim verlassen musste: »Als ich am nächsten Morgen erwachte, wohnten wir in einem Keller. Die Wände waren von oben bis unten dicht mit grünen und schwarzen Schimmelpilzen bewachsen.«

Eine Zwangsräumung gegen alle

Ein ähnlicher Fall hatte schon im Juli 1863 zu den Moritzplatz-Krawallen geführt, bei denen es zu Tumulten im ganzen Viertel kam. Die Polizei schritt ein und verhaftete zahlreiche Aufrührer – so viele, dass der Platz in der Stadtvogtei (dem Sitz des Polizeipräsidiums und zugleich Gefängnis) knapp wurde. Auch für die Blumenstraßen-Krawalle war eine Zwangsräumung der Auslöser.

Dieses Schicksal traf am 25. Juli 1872 den Tischler Ferdinand Hartstock, der mit seiner Familie in der Blumenstraße 51 c wohnte. Das Haus befand sich nahe dem heutigen Strausberger Platz in Friedrichshain; im Zweiten Weltkrieg wurde die Straße allerdings zerstört und hat daher heute einen anderen Verlauf. Hartstocks Vermieter hatte ihm wegen eines Untermieters gekündigt, und der Hausbesitzer sah damit eine günstige Gelegenheit, die Wohnung teurer zu vermieten. Weil sich Hartstock aber mit dem Fuhrunternehmer nicht über den Abtransport seiner Möbel einigen konnte, standen diese über Stunden auf dem Gehsteig. Außerdem beschwerte sich Hartstock lautstark, was schnell Aufsehen erregte. Viele Menschen solidarisierten sich umgehend mit ihm, denn die angespannte Wohnsituation stellte für alle Bewohner*innen der Straße und die Arbeiter*innen der Umgebung eine Belastung dar. Um die Mittagszeit hatten sich rund 2000 Personen vor dem Haus versammelt.

Das war aber erst der Auftakt. Den ganzen Nachmittag über zogen kleinere Trupps meist jüngerer Anwohner*innen durch das Viertel. Um vier Uhr warfen einige die Fenster des Vermieters ein, der selbst im Haus wohnte. Am Abend war die Menge schon auf über 4000 Menschen angewachsen – und ein Aufgebot von mehreren Dutzend Polizisten rasch überfordert. Vor allem aus den Kneipen und Hauseingängen heraus bewarfen die Aufrührer sie mit Steinen. Polizisten ritten in die Menschentrauben und schlugen mit Säbeln auf die Umstehenden ein. Erst als die Kneipen schlossen, verlief sich die Menge langsam, nach Mitternacht hatte sich die Lage beruhigt.

Die Eskalation der Proteste wurde schließlich durch einen weiteren Umstand befeuert. Für den September war ein Gipfeltreffen in Berlin angesetzt, zu dem der russische Zar Alexander II. und der österreichische Kaiser Franz Joseph erwartet wurden. Um die hohen Gäste nicht mit den Slums zu konfrontieren, sollten diese zuvor abgerissen werden. Die Feuerwehr begann genau einen Tag nach der Zwangsräumung in der Blumenstraße mit der Beseitigung. Das führte zu einem Aufschrei. Schnell strömten auch die Arbeiter*innen der nahen Färbereifabriken dazu, und es kam zu handfesten Auseinandersetzungen über mehrere Tage. Die erzkonservative »Neue Preußische Zeitung« beschrieb das Geschehen wie folgt: »In der Weberstraße machte der Pöbel sich das Vergnügen, sämtliche Straßenlaternen einzuwerfen und die großen Rinnsteinbohlen quer über den Straßendamm zu legen, um die Pferde der berittenen Schutzmannschaft zu Fall zu bringen.«

In den Hauseingängen wurden Steine zusammengetragen und die Laternen eingeworfen, um der Polizei das Vorgehen in der Dunkelheit zu erschweren. Sogar eine Polizeiwache wurde eingenommen. Daraufhin stürmten die Vertreter der Staatsmacht die Barrikaden, brachen in die Häuser ein und verhafteten erneut 20 Personen. Um endlich die Kontrolle zurückzuerlangen, ließ das Polizeipräsidium am dritten Tag der Proteste Warnungen plakatieren. Außerdem warteten mehrere Regimenter der Armee mit scharfer Munition auf einen Einsatzbefehl. Kaiser Wilhelm I. hatte persönlich die Anweisung erteilt, »dass den dortigen Exzessen, falls sie fortgesetzt werden sollten, mit Ernst und Nachdruck begegnet werde«. Allerdings kam es zu keinem Militäreinsatz. Schließlich flauten die Krawalle nach dem dritten Tag ab, was nicht zuletzt auch daran lag, dass die Polizeipräsenz deutlich zurückgefahren wurde.

Revolution der Mieter*innen?

Die Ereignisse hatten auf beiden Seiten Opfer gefordert. So waren 102 Beamte verwundet worden und allein 159 Aufrührer*innen erlitten Verletzungen durch Polizeisäbel. Im Anschluss kam es zu Gerichtsverfahren wegen Landfriedensbruchs gegen 37 Verhaftete. Nur drei von ihnen wurden freigesprochen, die anderen mit teils über vier Jahren Haft bestraft. Der Gerichtspräsident erklärte: »Bedenken Sie, meine Herren Geschworenen, was daraus hätte entstehen können, wenn zufälliger Weise zu jener Zeit ein größerer Strike ausgebrochen wäre oder wenn einige socialistische Führer sich der Sache bemächtigt hätten.«

Gegen die beteiligten Polizisten wurden dagegen keine Strafen verhängt. Von kritischen Stimmen wie der Zeitung »Neuer Social-Demokrat« wurde den Ordnungshütern jedoch vorgehalten, durch ihr drastisches Einschreiten die Situation überhaupt erst eskaliert zu haben. Auch wenn der Aufruhr nicht geplant war und keine unmittelbaren politischen Folgen hatte, wurde in den Zeitungen dennoch diskutiert, ob die Krawalle ein Symbol für grundlegende gesellschaftliche Spannungen sein könnten. Die »Neue Preußische Zeitung« etwa schrieb vom Anfang einer Revolution der Mieter gegen die Vermieter.

Die sozialistische Arbeiterbewegung war zu dieser Zeit aber noch schwach und zerstritten; die Funktionäre hatten zudem Angst vor Repressionen, sollte man sie für den Aufruhr verantwortlich machen. Aus dieser nicht unberechtigten Sorge, wie die Aussage des Gerichtspräsidenten zeigt, distanzierte sich die Bewegung von den Ereignissen. Weil damit der organisatorische Rückhalt fehlte, verlief der spontane Protest rasch im Sande – konkrete Erfolge konnten nicht erreicht werden. Eine organisierte Interessenvertretung der Mieter*innen entstand in der Hauptstadt erst ab 1888.

Zu spontanen Protesten kam es in Berlin immer wieder, in einer Kontinuität, die vom Vormärz bis in die Weimarer Republik reichte. Ausgangspunkt war fast immer der Kiez. Dort kannten sich die Menschen, sie wohnten und arbeiteten auf engem Raum zusammen. Und noch ein Faktor spielte eine Rolle: die Kneipen als Wohnzimmerersatz, Treffpunkt und politisches Forum. Nicht nur die Blumenstraßen-Krawalle nahmen hier ihren Ausgang, auch die Arbeiter*innenbewegung wäre ohne sie undenkbar.

Die Blumenstraßen-Krawalle stehen für eine Zuspitzung des Konflikts, der entsteht, wenn ein existenzielles Grundbedürfnis wie das Wohnen dem Markt überlassen wird. Vieles der konkreten Umstände des Protests ist mit der heutigen Situation sicher nicht vergleichbar, der zugrunde liegende Widerspruch zwischen den Bedürfnissen der Menschen und dem Wohnungsmarkt ist aber heute immer noch brandaktuell – ebenso wie die Notwendigkeit, Widerstand dagegen zu organisieren.

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