Keine Steuerung über den Bedarf

Personalnot treibt auch viele Branchen um, die bessere Jobs bieten als Flughäfen oder Gastronomie

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Gepäckabfertigung im Flughafen Frankfurt – zu viele Koffer, zu wenig Personal
Gepäckabfertigung im Flughafen Frankfurt – zu viele Koffer, zu wenig Personal

Wäre es der einzige Mangel, ließe sich darüber schmunzeln: Ein Passagier flog extra nur mit Handgepäck in den Urlaub, doch die Fluggesellschaft verlor es trotzdem. Fehlende Koffer, gestrichene Flüge und stundenlange Warteschlangen vor den Sicherheitskontrollen versalzen manchem den Sommerurlaub. Der Grund: Viele Flughäfen, aber auch Airlines wie Lufthansa & Co. hatten während der Corona-Pandemie einen erheblichen Anteil ihres Personals in Kurzarbeit geschickt, externe Dienstleistungsunternehmen wurden gekündigt. Viele Fachkräfte suchten sich daraufhin neue Jobs in anderen Branchen.

Und dennoch fehlen vor allem im Dienstleistungssektor Abertausende Arbeitskräfte. In zwei Dritteln der Kitas in Schleswig-Holstein erschwert der Mangel an Erzieherinnen, Küchenpersonal und Leitungen die Bildung der Jüngsten, klagt die Landeselternvertretung. Aus vielen Kindertagesstätten ist zu erfahren, dass Gruppen vollständig geschlossen sind. Solche Horrornachrichten werden aus nahezu allen Bundesländern gemeldet.

In Krankenhäusern, im Handwerk, an Schulen und in Pflegeheimen mangelt es schon lange an Personal. Im Gefolge der Coronakrise kommen weitere Bereiche wie Gastronomie und Tourismusindustrie hinzu. So hat der Europa-Park in Rust (Baden-Württemberg) – wie auch einige Flughäfen – die tägliche Besucherzahl gedeckelt, auf 30 000. Den Freizeitpark bremsen Personalengpässe.

Bundesweit sind nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 1,74 Millionen offene Stellen gemeldet. Seit mehr als einem Jahrzehnt, nur kurz durch Corona unterbrochen, zeigt der Trend immer weiter nach oben. Dabei sind die Gründe für den Mangel an Fach- und Arbeitskräften von Branche zu Branche, von Betrieb zu Betrieb durchaus unterschiedlich.

Ein Dauerbrenner ist die zu geringe Ausbildungsquote unter jungen Leuten. Vor allem im Handwerk wird über mangelnde Qualifikation von Bewerbern und Lehrlingen geklagt: Schlechte Sprach- und Rechtschreibkenntnisse oder häufige Fehlzeiten werden von Handwerksmeistern als Erklärung dafür angeführt, keine Azubis mehr auszubilden. Auch Studien zeigen: Mindestens jeder zehnte Schüler hat Lernlücken. Eine aktuelle Befragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt einen anderen Grund, den Unternehmensleitungen selten nennen: Unattraktive Arbeitsbedingungen wie niedrige Bezahlung oder ungünstige Arbeitszeiten sowie schlechte Perspektiven. Jeder dritte befragte Betriebs- und Personalrat erklärt damit Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung.

Eher ein Luxusproblem macht dagegen im Süden Deutschlands Kita-Leitungen, Gastronomen und Industriemanagern das Leben schwer. Die nahe Schweiz mit ihren teilweise doppelt so hohen Löhnen zieht viele Arbeitskräfte an, die dann in deutschen Firmen fehlen.

Auch das erforderliche Qualifikationsniveau spielt eine wichtige Rolle: Von den Befragten, deren Betrieb von Personalnot betroffen ist, berichten über 70 Prozent, dass Stellen für Hochqualifizierte vakant geblieben sind, bei rund 63 Prozent waren es Arbeitsplätze für Fachkräfte mit Berufsausbildung. Probleme bei der Gewinnung von Auszubildenden geben knapp 29 Prozent zu Protokoll – doch Personal für einfache Tätigkeiten fehlt »nur« bei rund 19 Prozent.

Dabei basiert das deutsche Exportmodell unter anderem auf dem »Import« preiswerter Arbeitskräfte aus mittel- und osteuropäischen EU-Staaten sowie sogenannten Drittstatten wie Belarus oder Serbien. Doch während der Corona-Pandemie sind viele Menschen zurück in ihre Heimatländer gereist, die wie Polen oder Ungarn nun durchaus attraktive Jobs bieten. Das trifft – neben der Pflegebranche – vor allem die Logistikindustrie ins Mark.

Was kein rein deutsches Phänomen ist: Eine Umfrage der International Road Transport Union zum Fahrermangel zeigt, dass die Zahl der unbesetzten Stellen weiterhin zunimmt – weltweit. So bleiben in Rumänien 71 000, in Polen und Deutschland je 80 000 und im Vereinigten Königreich 100 000 Fahrerstellen unbesetzt. Worüber deutsche Politiker freilich ungern reden. Denn nationale Lösungen wie etwa »Green Cards« oder die Anerkennung der Fahrerlaubnisse aus anderen Ländern greifen zu kurz. Schließlich gehen sie letztlich auf Kosten anderer Staaten.

Der kapitalistische Arbeitsmarkt steuert Angebot und Nachfrage über den Preis – nicht aber über den gesellschaftlichen Bedarf. So gibt es zu viele »unproduktive« Tätigkeiten, die Betriebswirte, Verwaltungsfachangestellte in neuen Behörden- oder Marketingstellen ausfüllen. Derweil ist die Zahl der Erstsemester in Ingenieurwissenschaften und Informatik seit 2016 um fast 15 Prozent gesunken, in der Mathematik und den Naturwissenschaften beträgt das Minus 9 Prozent.

In diesen für die Volkswirtschaft existenziellen MINT-Fächern werden auch zu wenige Facharbeiter ausgebildet, misst man deren Zahl an den bis zu 300 000 älteren Facharbeitern, die ab 2024 Jahr für Jahr in Rente gehen werden. Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zeigt, wie gravierend die demografischen Herausforderungen sind. Bereits 2025 wird die Altersverteilung der deutschen Bevölkerung weit von der klassischen Pyramidenform entfernt sein – die meisten Einwohner haben dann das Rentenalter erreicht oder stehen kurz davor. Viele wollen dann womöglich noch häufiger fliegen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.