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Auf dem grünen Zweig?
Christian Baron hat mit »Schön ist die Nacht« einen fulminanten zweiten Roman vorgelegt
Sehnsucht, die uns alle vereint und uns doch nicht gleichmacht. Blicke zum nächtlichen Himmel, wenn der Mondschein durch ein Wolkenloch bricht. Und immer wieder diese Tango-Serenade aus den 1930er Jahren: »Schön ist die Nacht, die lauschige Nacht, es leuchten die Sterne …« Für Rosi und Willy war es der erste Tanz gewesen. Zuletzt, als er sich für immer von ihr verabschieden musste, legte er noch einmal diese Platte auf.
Im Nebenzimmer saßen auch Mira und Ottes, die später Christian Barons Eltern werden würden. Von ihnen hat er schon in seinem Buch »Ein Mann seiner Klasse« erzählt und auch von seiner resoluten Tante Juli, die nach dem Krebstod ihrer Schwester seinen prügelnden Vater vor die Tür setzte. Dass sie die vier Kinder zu sich nahm, zusätzlich zu ihrem eigenen, war deren Rettung aus elenden Verhältnissen. Dabei hatte sie selbst nicht viel. Dass Christian Baron dann gar ein Studierter wurde, was seit jeher in beiden Familien undenkbar war, hat sie erfreut und befremdet. Würde er seine Herkunft vergessen? Im Gegenteil, immer tiefer tauchte er in sie ein.
Inwieweit sein trinkender, gewalttätiger Vater eben ein »Mann seiner Klasse« war, durchdachte er in seinem Buch von 2020. Hier nun geht er weiter zurück: zu seinen Großeltern. Doch nicht in Form einer Familiengeschichte. »Schön ist die Nacht« wurde zu einem vielschichtigen Roman, in dem man immer wieder neue Facetten entdeckt. Er ist etwas Großartiges, das garantiert Furore machen wird. Man möchte die packende Lektüre nicht unterbrechen, obwohl man eigentlich auf einen ganz und gar überraschenden Schluss nicht hoffen kann. Das Überraschende liegt dazwischen, ereignet sich von Seite zu Seite.
Willy und Horst: Ihre Wege waren miteinander verschlungen, nachdem der eine den anderen 1944 eines Nachts zwischen Ruinen aufgelesen hatte. Arm alle beide, schuftet Willy klaglos auf dem Bau, während Horst überlegt, wie er wohl leichter zu Geld kommen könnte. Dieser »John Wayne von Kaiserslautern« – was für ein starker, vielschichtiger Charakter ist dem Autor da gelungen, wohl auch in Gedanken an Horsts Sohn, seinen Vater, der ein Geschlagener war, bevor er selbst zum Schläger wurde. Einer, der sich auf Teufel komm raus durchbeißen muss und will; man schwankt zwischen Distanz und Zuneigung, wenn er bei all seinem Trotz plötzlich wieder eine menschlich liebevolle Regung offenbart.
Dabei müsste man doch eher an Willys Seite sein. Aber hieße das nicht Anpassung an die Verhältnisse? Ein Haus wie der Zahnarzt hatte er sich als Junge gewünscht für sein Leben. Und was hat er bekommen? Sieben Kinder immerhin, Mädchen. Nur zwei waren in der Familie geblieben – Mira und Juli. Und seine Rosi war meist schon besoffen, wenn er abends aus der Kneipe kam. Da hörte ich beim Lesen wieder mal die Stimme meiner Mutter: »Wie diese Leute trinken und rauchen, kein Wunder, dass sie auf keinen grünen Zweig kommen.« – »Weil sie keinen grünen Zweig sehen, weil sie dem System egal sind«, antworte ich ihr in Gedanken. – »Wir hatten auch nicht viel Geld. Dein Vater war Hilfsarbeiter beim Bau und hat sich hochgearbeitet zum Ingenieur.« – »Aber sein Vater war Postbeamter gewesen und deiner hatte eine kleine Druckerei«, entgegne ich. – »Eine kleine und trotzdem enteignet.«
Selbst wenn einer mit nichts dasteht, überlege ich da, macht es wohl einen Unterschied, ob er den grünen Zweig schon mal gesehen hat, an sein Fortkommen glauben kann. Willy will glauben – und wird immer wieder vor den Kopf gestoßen. Horst hat keine Illusionen. »Weißte was, mein Bester, … man muss immer fröhlich bleiben, auch wenn das Leben einem keinen Grund dazu gibt.« Baron geht sehr gerecht mit ihm um, obgleich er dazu beitrug, dass sein Vater wurde, wie er war.
»Ein Hallodri«, sagt meine Mutter. – »Wir haben in der DDR gelebt«, wende ich ein. Da gab es keine Zwangsräumungen, und wer mal im Knast war, bekam Arbeit.» – «Aber anstrengen musste man sich doch.» Ja, es ist eine mir fremde Welt, die mir hier vor Augen tritt. Nicht der Wohlstandsstaat BRD, sondern eine Klassengesellschaft mit oben und unten, wie wir sie bis heute haben. Der Anteil am Wohlstand – wie ist er zu erlangen, wenn jeder sehen muss, wo er bleibt? Da zieht Horst irgendwann eine Schreckschusspistole. Und Willy hat später eine Axt dabei. Wem gebe ich den Vorzug? Was sagen die Frauen zu dieser Frage?
Rosi haut Teller gegen die Wand. Sieben Kinder und der Mann besoffen. Dora verlässt Horst, will zum Fernsehen und landet beim Pornofilm. «Ein Glanz» möchte sie werden, hat sie einmal gesagt. Aber was für Chancen hast du, wenn schon an deiner Adresse Bedürftigkeit erkennbar ist? Ein innerer Vorbeimarsch muss der Roman für Leute aus Kaiserslautern sein. Orte und Straßen erkennen sie wieder, und bei den Spielen des FCK, filmreif beschrieben, können noch einmal mitfiebern.
Als Meister des Dialogs zeigt sich hier der Autor. Auf selbstverständliche Weise heimisch in der Hochliteratur, gibt er seinen Gestalten jeweils eine ihnen eigene Ausdrucksweise bis hin zum Dialekt. Und die Zeit vor seiner Geburt 1985 führt er uns so plastisch vor Augen, als hätte er sie erlebt. Wie viele Recherchen in diesem Roman stecken, wie tiefgründig wohl daran gearbeitet worden ist!
Baron taucht in fremde Leben ein, schafft einprägsame Bilder mit den Augen seiner Gestalten, die man wie in einem Film vor sich sieht. Fulminante Szenen – und wie nebenbei spricht er vieles aus, das ihm selber wichtig ist. Hat Willy eine Chance, «mit Anstand aus dem Dreck» herauszukommen? «Niemals darfst du so tief sinken, dass du Almosen vom Amt annimmst», sagt er zu Mira. Streitgespräche mit Horst und seiner Mutter, die Kommunistin ist.
Eine Zeitreise durch die alte Bundesrepublik während der 1970er Jahre: der Übergang vom Wirtschaftswunderland zum Neoliberalismus vor welthistorischem Hintergrund, mit den Kanzlern Brandt und Schmidt, Jimmy Carter, der US-Airbase Rammstein. Die Unterschicht blickt voll Misstrauen auf die Mittelschicht und umgekehrt. Die Oberschicht ist unsichtbar wie heute. Drogendealer, Schwarzarbeiter, Rassismus, Homophobie und Frauen, die von ihren Männern als Besitz betrachtet wurden, was im Osten so längst nicht mehr möglich war. Aber von der DDR hatte man in der alten BRD nur ein unklares Bild. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Fluidum einer Zeit mit vielen Details bis hin zu Filmen, Büchern und Musiktiteln von einst. Wechselnde Stimmungen: Hell und Dunkel, Dunkel und Hell. Der Autor lässt sich scheinbar lustvoll von ihnen mitreißen.
Schon in «Ein Mann seiner Klasse» hat Baron von der poetischen Ader seiner Mutter erzählt, die sie nie hat ausleben können. Mira schrieb bereits als Schülerin Gedichte und wurde in ihrer Klasse dafür verlacht. «Sein wie ein Baum, das war schon oft mein Traum. Tief verwurzelt mit Mutter Erde, Heimstatt für Wichtel und Zwerge. Mit den Geschöpfen der Natur in Einklang leben, unzerstörbar zum Himmel streben. Ach, könnt ich sein wie der Baum.» So naiv das klingt, so ernst gemeint ist es. Ihr Vater lobt sie: «Wer Gedichte schreibt, öffnet sich anderen. Das kann nicht jeder.» Dass ihr Sohn einmal ein erfolgreicher Schriftsteller werden könnte, hätte sich Mira nie vorstellen können.
Christian Baron: Schön ist die Nacht. Roman. Claassen, 380 S., geb., 23 €. nd-Literatursalon mit Christian Baron am 21. September, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.
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