Allgemeine Unsicherheitsklage

Ein Besuch in der Hochhaussiedlung Heerstraße Nord, wo Sehnsucht nach Ordnung auf soziale Realität trifft

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 8 Min.
Betonidylle: Im Hochsommer döst die Hochhaussiedlung Heerstraße Nord vor sich hin.
Betonidylle: Im Hochsommer döst die Hochhaussiedlung Heerstraße Nord vor sich hin.

Sonnenschirme stecken wie Cocktailschirmchen auf den gestapelten Balkonen, zwischen den Häusern ist es ruhig und sandig, es riecht nach Kiefern. Die Siedlung Heerstraße Nord döst an diesem drückend heißen Mittwochnachmittag Ende Juli. Und widerspricht damit still dem Bild, das manche Medien in den vergangenen Monaten von dem Quartier im Spandauer Ortsteil Staaken gezeichnet haben. Seit über einem Jahr sorgt eine Serie von Brandstiftungen für Aufruhr, im Zuge der Berichterstattung wurden weitere Missstände publik: Vermüllung, randalierende Jugendliche, Drogenkriminalität. Heerstraße Nord steht für Problemkiez.

Der Quartiersrat und der Mieterbeirat, beides Vertretungen der Anwohner*innen, fordern einen dauerhaft aktiven Sicherheitsdienst und mehr Polizeipräsenz. Das städtische Wohnungsbauunternehmen Gewobag, das einen Teil der Hochhäuser verwaltet, reagierte bereits auf die Forderungen. Seit Ende März gibt es einen Wachdienst, neu installierte Kameras sollen die Hauseingänge kontrollieren.

Berlins SPD-Landes- und Fraktionschef Raed Saleh hatte im Mai bei einem Pressetermin zur Kotti-Wache sogar eine neue Polizeiwache für Heerstraße Nord angekündigt – als nächstes innenpolitisches Projekt nach Fertigstellung der umstrittenen Polizeistation im Zentrum Kreuzberg. Saleh ist in Heerstraße Nord aufgewachsen. Bisher gab es zwar noch keine Absprache mit den anderen Regierungsfraktionen und ohnehin müsste die Planung mindestens bis zum nächsten Haushalt 2024 warten. Dennoch steht Salehs Vorschlag für einen Sicherheitsdiskurs, der mehr Kontrolle an sogenannten sozialen Brennpunkten fordert. Heerstraße Nord gilt als armer Kiez, in den prekär Beschäftigte, Arbeitslose und Familien in den vergangenen Jahren zogen, wenn sie sich die Mieten in der Berliner Innenstadt nicht mehr leisten konnten. 2016 lag die durchschnittliche Kaltmiete bei 5,33 Euro, damals der niedrigste Quadratmeterpreis in ganz Berlin.

Bei den Rufen nach mehr Sicherheit geht es deshalb nicht nur um die 82 Brände in Kellern und Erdgeschossen seit April 2021 – für diese Delikte ist seit Januar eine eigene Ermittlungskommission des Landeskriminalamts zuständig. Es geht auch um das subjektive Sicherheitsempfinden im Viertel. Und um die Frage, wie 20.000 Menschen über-, unter- und nebeneinander wohnen können, mit all ihren Sorgen und Problemen. Braucht es dafür mehr Kameras, mehr Security, mehr Polizei?

Christopher Ortmann findet: ja. Der Sprecher des Mieterbeirats, der die Mieter*innen der Gewobag in Heerstraße Nord vertritt, ist kurz angebunden, während des Telefonats gibt der Mechaniker seinem Gesellen nebenbei Anweisungen zur LKW-Reparatur. Bereits im Januar sammelte der Mieterbeirat 1000 Unterschriften für die Rückkehr eines Sicherheitsdienstes, den die Gewobag im Zuge der Häuserübernahme 2019 abgeschafft hatte. Gut drei Monate später reagierte die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft auf die Forderung mit einem Wachdienst. Von dem hält Ortmann allerdings nicht viel. »Die sitzen hauptsächlich in der Waschküche rum und tun eigentlich nichts«, sagt er. So würden die Wachleute mögliche Brände gar nicht mitbekommen.

Er wünscht sich eine Sicherheitsfirma, die in die Hochhäuser geht und verhindert, dass »Hinz und Kunz reinkommt« und Sperrmüll in den Treppenhäusern und Fluren abstellt. Die Videoüberwachung findet er »gut und schön«, so könnten nicht nur Brandstifter, sondern auch Sperrmülltäter ertappt werden. Um sich wieder sicher zu fühlen, bräuchte es aber zusätzlich mehr Polizei.

Die Brände haben Angst und Misstrauen hinterlassen. Bisher richteten die Feuer nur Sachschäden an, trotzdem bedeutet ein brennender Keller potenzielle Lebensgefahr. Tom Liebelt arbeitet für den Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V., der unter anderem mitten im Kiez einen Treffpunkt und Beratungsort für die Nachbarschaft anbietet. Er ist in mehreren Whatsapp-Gruppen aktiv, wo Informationen zu Feuerwehreinsätzen geteilt werden. Am Mittwoch zeigt er auf seinem Smartphone ein aktuelles Foto, das im Chat geteilt wurde: eine dunkle Rauchwolke, die hinter einem Dach aufsteigt. Dazu der besorgte Kommentar eines Gruppenmitglieds, dass so viel Rauch wohl nicht vom Grillen komme. »Die Brandserie war wirklich schlimm«, erzählt Liebelt. »Seitdem haben einige Anwohner*innen jedes Mal diese Angst: Es brennt und ich komme nicht aus meinem Haus raus.«

Zugleich merkt Liebelt an, dass sich die Angst vor Brandstiftung mit Ärger über unsoziales Verhalten vermische. »Eigentlich geht es vielen darum: Wer schmeißt die Kippen auf den Boden, wer pinkelt in den Fahrstuhl?« Eine Polizeiwache würde an solchem Verhalten nichts ändern. »Da wird die Forderung nach mehr Polizei zu einer Chiffre für die Wahrnehmung, dass der Kiez in den letzten Jahren heruntergekommen ist«, sagt Liebelt. »Und manche denken, es wohnen jetzt die Falschen hier.«

Die Falschen, so wirkt es in Zeitungs- und Forumsbeiträgen, wo sich größtenteils ältere und deutsche Anwohner*innen zu Wort melden, sind oftmals die Jungen. Kaputte Spielplätze? Jugendliche Randalierer. Müll in den Treppenhäusern? Jugendliche ohne Anstand.

Der Bezirksstadtrat für Jugend und Gesundheit, Oliver Gellert (Grüne), sitzt in seinem Büro im Spandauer Rathaus, mit dem Bus 20 Minuten von der Hochhaussiedlung entfernt. Hier fängt es schon an: Jugendliche aus Heerstraße Nord sind auf den Bus angewiesen, um rauszukommen. Also hängen sie eher zwischen den Wohnblöcken ab, erzählt Gellert. »Wir haben ein dicht bebautes Wohngebiet mit oft zu kleinen Wohnungen. Natürlich wird es Jugendlichen dann zu eng.« Sie träfen sich auf Spielplätzen, »das kann ich nachvollziehen«. Zu schnell zeigten Erwachsene mit dem Finger auf die Jugend, weil sie nachts unterwegs und laut sei. »Dann gibt es flott den Anspruch, dass Sozialarbeiter kommen und die Jugendlichen verschwinden«, sagt Gellert. »Aber wohin?«

Bei einem Sicherheitsdienst sieht Gellert die Gefahr, dass ausschließlich die Interessen der Erwachsenen durchgesetzt würden. »Wenn wir Orte mit Aufenthaltsqualität schaffen, wo die Jugendlichen toleriert werden, dann hätten wir schon viel gewonnen.«

Er hält die Abschreckungswirkung sichtbarer Polizeipräsenz in dem Quartier mit Kleinstadtausmaß zwar für notwendig. Schließlich funktioniere bei so vielen Menschen an einem Ort die gegenseitige Kontrolle nicht. Alle Probleme würden durch mehr Polizei aber nicht gelöst. »Es braucht auch mehr soziale Infrastruktur«, findet Gellert: besser finanzierte Jugendzentren, Kinderbetreuung, niedrigschwellige Sozialberatung. Also keine gute Idee mit der neuen Polizeiwache? So ganz kann sich Gellert nicht festlegen.

Selma hat dagegen eine klare Meinung. Die 18-Jährige steht gemeinsam mit ihrer Mutter vor ihrem Wohnhaus an der Obstallee. Sie führen den Hund aus. Von den Absichten, eine Polizeistation in ihr Viertel zu setzen, hört sie zum ersten Mal. »Wirklich? Krass«, sagt Selma. Und dass sich der Gedanke komisch anfühle. »Das wäre so, als ob man gefangen wäre oder beobachtet würde.« Selma ist in Heerstraße Nord aufgewachsen, sie geht hier zur Schule, nach ihrem Abschluss will sie eine Ausbildung zur Köchin machen. Natürlich gebe es manchmal Stress, »aber viele Jungs haben echt Respekt, grüßen zurück und so«. So schlimm wie von außen dargestellt sei die Siedlung jedenfalls nicht.

Andere Teenager, die am Mittwoch im Schatten zwischen den Hochhäusern abhängen, wünschen sich auf Nachfrage einen neuen Fußballplatz, Wiesen ohne Hundekacke, sanierte Häuser. Mehr Polizei? Die Polizei solle aufpassen, dass es nicht mehr brenne, meint die 13-jährige Petek. Abends sei schon ziemlich viel Polizei unterwegs, wegen der Dealer, erzählt Hussein, 15 Jahre alt. Mit mehr Polizei könnten sie und ihre Freundinnen »keine Scheiße mehr bauen«, befürchtet Hanna, 13.

Ein Generationenkonflikt also, zwischen Jugendlichen, die Freiräume brauchen, und Älteren, die Ruhe suchen? Am späten Mittwochnachmittag treffen sich im Haus des Gemeinwesenvereins acht Nachbar*innen zum Sprachcafé: Bei Pflaumen, Chips und Leitungswasser wird gemeinsam Deutsch geredet, heute über das Leben im Kiez. Als es um mögliche Verbesserungen geht, stehen Polizei und Security nicht an erster Stelle. Zahra wünscht sich sanierte Spielplätze: »Wenn meine Tochter schaukeln will, muss sie zum Rathaus.« Und die Mülleimer seien immer so voll, dass es im Sommer stinke. Ein anderer Teilnehmer wünscht sich mehr Kitaplätze. Er und seine Frau würden seit sieben Monaten einen Kindergarten für das drei- und das fünfjährige Kind suchen.

Nur Parwin, eine Frau Mitte 40 aus Afghanistan, erwähnt von sich aus den Bedarf an mehr Polizei. Bereits dreimal sei ihr Fahrrad geklaut worden, außerdem fahre ein Junge immer rauchend mit dem Fahrstuhl, »und ich habe Asthma«. Zahra stimmt ihr zu: Ja, mehr Sicherheitsleute und Polizisten brächten sicherlich Leute dazu, sich an die Regeln zu halten. Sie fühle sich oft unwohl, wenn abends Gruppen von Männern in den Hinterhöfen säßen und Drogen nähmen. »Ein Security-Mann ist stärker als ich, der kann sagen: ›Bitte nehmen Sie an einem anderen Ort Drogen.‹«

Es ist nicht so, als ob es in Heerstraße Nord bisher keine Polizei gäbe. Seit 2018 kommt eine mobile Wache regelmäßig in das Viertel, um die Brandserie aufzuklären. Außerdem sind verdeckte Ermittler*innen und Streifen unterwegs. Anscheinend reicht diese Präsenz nicht, um die unterschiedlichen Sorgen aus der Welt zu räumen: Zahra und Parwin sehnen sich nach einer Instanz, die ihre Position vertritt, wenn sie sich rücksichtslosem Verhalten gegenüber machtlos fühlen. Christopher Ortmann stellt sich einen durchsetzungsfähigen Hausmeisterdienst vor, der Störenfriede im Zaum hält. Die 13-jährige Petek will keine Angst mehr vor Bränden haben. Am Ende geht es immer um das Bedürfnis, sich nicht ohnmächtig, vergessen oder benachteiligt zu fühlen. Die Frage bleibt, ob Polizei und Sicherheitsdienste dieses Bedürfnis erfüllen können.

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