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Einst geächtet, heute gefeiert
Harriet Tubman war eine schwarze Kämpferin für Freiheit und Gleichheit. Die Erinnerung an sie musste in den USA erkämpft werden
Chesapeake Bay an der Ostküste der USA: Die Einwohner*innen nennen die Gegend auch stolz Tubman Country – nach der schwarzen Freiheitskämpferin Harriet Tubman. Besucher*innen aus der 150 Kilometer entfernten Hauptstadt Washington DC kommen – wenn nicht gerade die Covid-19-Pandemie grassiert – in den Ferien und am Wochenende in das beschauliche Örtchen Cambridge: zum Segeln, Paddeln oder Golfspielen. Dieser friedliche, maritime Ort im US-Bundesstaat Maryland war einst ein berüchtigter Schauplatz des Sklav*innenhandels.
Zum Beispiel auf der Brodess Farm in der Nähe von Cambridge. Hier wurde Tubman geboren, misshandelt und zur Knochenarbeit auf den Feldern und in den Sümpfen gezwungen. Und weiter nördlich im General Store in Bucktown wurde sie fast getötet. Diese Orte der Sklaverei sind heute Etappen auf einer 230 Kilometer langen Rundfahrt, die Historiker*innen zusammengestellt haben.
Der »Harriet Tubman Byway« führt vorbei an verlassenen Sklav*innenorten und Sumpfgebieten, durch Kiefernwälder und Marschland. Erste Station und Herzstück der Tour ist das »Harriet Tubman Underground Railroad Visitor Center«. Das Museum liegt südlich von Church Creek auf einer Waldlichtung. Es ist eine üppig-grüne, fast tropische Umgebung. Die Ausläufer des Choptank River enden hier. Vor der Einfahrt zum 2017 eröffneten Gebäudekomplex mit Holzfassaden, Glasfronten und zinkverkleideten Dächern ist der Rasen frisch angelegt.
Am Rande des Blackwater Nationalparks hätten sich sonst wohl nur Fans von Fischreihern, Seeadlern, Flusskrebsen und Schilfgras verlaufen. Heute pilgern täglich Menschen aus der ganzen Welt hierher. Ex-Präsident Barack Obama hatte den Startschuss gegeben und erklärte das 17 -Hektar große Gebiet zum Nationalpark. Kirchen, Wohnhäuser und Verwaltungsgebäude bekamen Denkmalstatus.
Rangerin Angela Crenshaw hütet dieses Vermächtnis. Sie trägt die typisch beige-grüne Nationalpark-Uniform mit Wappen. Immer wieder staune sie über die vielen unwissenden Landsleute. »Ich werde gefragt, wo die U-Bahn ist. Wo sind die Tunnel und Züge?« Die Mittdreißigerin blickt belustigt durch ihre große goldgerahmte Sonnenbrille. »Ich erkläre den Besucher*innen dann, dass es sich um eine Untergrund-Bewegung handelt, die sich für die Befreiung der Sklav*innen und die Rechte der Afroamerikaner*innen einsetzte.«
Underground Railroad ist ein Bild, eine Metapher für ein Netzwerk von Helfer*innen, die geheime Verstecke organisierten, einander verschlüsselte Nachrichten zukommen ließen und versklavte Menschen auf ihrer Flucht unterstützten. Die Geschichte der weit verzweigten Organisation begann Ende des 18. Jahrhunderts. 1870, also fünf Jahre nach dem Ende des US-amerikanischen Bürgerkriegs und der Sklaverei, hörte sie offiziell auf zu existieren. Das Vokabular des Eisenbahnwesens diente als Tarncode: Man sprach von Bahnhöfen, Stationsvorstehern, Passagieren und Schaffnern. Und genau hier, wo heute das moderne Museum steht, inmitten der Sumpflandschaft, verlief die wichtigste Verbindung zwischen den Südstaaten, in denen es die Sklaverei gab, und den Nordstaaten, wo Ex-Sklav*innen wie Harriet Tubman in Freiheit leben konnten.
Im Museum sind lebensgroße Figuren in dramatisch arrangierten Szenen zu sehen. Crenshaw zeigt ein Ruderboot, mit dem Sklav*innen einst flüchteten, dazu Exponate wie Ketten und Peitschen der Aufsehern. Der nächste Ausstellungsraum ist spärlich beleuchtet. Unter einem Nachthimmel mit Polarstern hat man die nächtliche Landschaft nachempfunden. Alles soll so aussehen wie zu Tubmans Zeiten.
Im kleinen Kino läuft der Hollywood-Blockbuster »Harriet«. Hier haben wir uns mit Tina Wyatt verabredet. Sie ist die Ururur-Großnichte von Harriet Tubman. Für die 68-Jährige hat sich ein Lebenstraum erfüllt: Der erste abendfüllende Spielfilm über ihre berühmte Verwandte hatte es 2019 in die Kinos geschafft! Eine späte Genugtuung – mehr als 100 Jahre nach dem Tod der Sklav*innenbefreierin. »Der Film geht mir sehr nah«, sagt sie. Tina Wyatt spricht mit fester Stimme. Sie strahlt freundliche Entschlossenheit aus – ähnlich wie ihre Vorfahrin auf den historischen Fotos. »Harriet konnte weder lesen noch schreiben, aber sie war eine ausgezeichnete Strategin. Sie hatte diese Bauernschläue und konnte auch witzig sein, und sie führte jeden in die Freiheit, der mitkommen wollte.« Sie wisse, dass der Hollywood-Streifen kein Dokumentarfilm sei, sagt Wyatt. Aber sie hoffe auf die Strahlkraft des Films. »Er animiert, die ganze Geschichte rund um die Underground Railroad zu erfahren – am besten, indem man sich die Schauplätze östlich von Washington DC anschaut«, ist sie überzeugt.
Jahrelang engagierte sich Tina Wyatt ohne Erfolg für die neue 20-Dollar-Note mit Tubmans Konterfei. »Das erinnert mich an meine Jugend. Damals wurden wir ganz offen unterdrückt«, erinnert sie sich. Schließlich war es die Obama-Administration, die das Konterfei von Harriet Tubman auf die neue 20-Dollar-Note hatte bringen wollen – anstelle des einstigen Präsidenten und Sklaverei-Befürworters Andrew Jackson. Der Gedanke elektrisierte nicht nur die afroamerikanische Gemeinschaft in den USA. Die folgende Regierung von Donald Trump machte die Pläne rückgängig. Kurz nach seiner Wahl kassierte Joe Biden den umstrittenen Beschluss seines Vorgängers. Der Tubman-Dollar wird kommen, allerdings gibt es noch kein Datum.
Unter Trumps Präsidentschaft hatte sie das Gefühl, zurückversetzt zu werden in die Vergangenheit, sagt Wyatt. »Damals, in den 1960er Jahren, wurden Schwarze als minderwertig angesehen und unsere Geschichte schien unwichtig zu sein. Diese Einstellung ist sehr gefährlich! Und sie darf nicht wiederkommen.«
In der Ausstellung tönen aus Kopfhörern die Erklärungen zu den Exponaten. Mal werden Alltagsszenen geschildert, mal Briefe vorgelesen – darunter auch Passagen aus der Tubman-Biografie, die bereits zu ihren Lebzeiten erschien. Immer wieder erzählte die Ex-Sklavin von Visionen. Seit einer schweren Kopfverletzung litt sie an Schlafanfällen. Verlor sie das Bewusstsein, glaubte Tubman, in die Zukunft blicken zu können. Und als sie erwachte, führte sie eine begonnene Unterhaltung an der Stelle fort, an der sie weggedämmert war.
»Es war ein Wunder, dass Tubman an jenem Nachmittag im General Store in Bucktown nicht gestorben ist«, erzählt Crenshaw mit ernstem Blick. »Nur 20 Kilometer von hier entfernt sollte sie für ihre Herrin etwas einkaufen und geriet zwischen einen fliehenden Sklavenjungen und dessen brutalen Aufpasser. Das war ein Wendepunkt in ihrem Leben.«
Auf dem zweispurigen Asphaltband geht es zu dem Ort, wo aus dem 13-jährigen Sklavenmädchen auf einen Schlag eine Heldin wurde: Bucktown. Immer dabei ist eine App (»Harriet Tubman Byway«), die insgesamt 36 Schauplätze der Sklaverei zeigt. Darunter sind Marktplätze, auf denen Sklav*innen-Auktionen stattfanden, Wohnhäuser von Fluchthelfer*innen und Kanäle, die als Fluchtweg dienten.
Das Dorf besteht aus einer Farm, ein paar Häusern und dem Bucktown General Store, dem Dorfladen. Drinnen räumen Susan Meredith und ihr Mann auf. Zusammen haben sie das kleine Holzhaus in Eigenregie restauriert. Die Einrichtung ist aus dem 19. Jahrhundert. Auf einem Herd steht noch die Teekanne. Im Regal stapeln sich Schachteln für Saatgut. Susan Meredith erzählt die Geschichte von Tubmans schwerer Verletzung, als sei sie dabei gewesen: »Ein Sklavenjunge kam in den Laden gerannt, hinter ihm der Aufseher Thomas Barnett. Um den Jungen aufzuhalten, warf Barnett ein Zwei-Pfund-Gewicht nach ihm, traf aber Harriet an der Stirn.«
Die tiefe Wunde über der Schläfe blutete zwei Tage lang. Aber Tubman überlebte. Zeit ihres Lebens plagten sie Schmerzen, Ohnmachtsanfälle. Gleichzeitig wuchs ihr Gottvertrauen. »Das war nicht ich«, antwortete sie auf die Frage, wie sie nachts auf ihren Befreiungsaktionen den Weg fand. »Gott hat ihn mir gezeigt.«
Vom General Store von Bucktown geht es weiter westlich in den Blackwater National Park. Nach einer knappen halben Stunde erreicht man das Naturschutzgebiet. Der Zufluchtsort für Zugvögel beherbergt viele bedrohte Pflanzen- und Tierarten. Der zentrale Aussichtspunkt endet an einem großen Steg mit Holzgeländer und Ferngläsern. Es ist eine wilde, grüne Marschlandschaft. Weißkopfadler haben hier ihr Revier. Kahle, abgestorbene Baumstämme ragen in den Himmel. Zu Harriet Tubmans Zeiten bauten die Farmer*innen an den trockeneren Stellen Tabak, Baumwolle, Flachs und Mais an.
Die Sonne steht fast senkrecht am Himmel. Die Luft ist stickig. Im Hintergrund durchkämmt ein Reiher mit langen Schritten den Sumpf. Die App leitet über ein paar einsame Straßenkreuzungen gen Osten. In der gleißenden Sonne taucht das Gelände der Brodess Farm auf. Doch nur ein windschiefes Hinweisschild und ein Zaun erinnern an die historische Bedeutung. Der Farmer Edward Brodess war der »Besitzer« von Harriets Mutter. Laut Kaufvertrag gehörten ihm damit auch ihre Kinder. Harriet und ihre Familie schufteten hier viele Jahre.
Tubman kehrte nach der Feldarbeit nicht zurück, sondern schlug sich allein gen Norden durch. Die Handy-App verleiht dem Abschiedsschmerz Ausdruck mit einem bekannten Gospelsong. Eine Frauenstimme singt: »I will meet you in the promised land!« Dieses Land hieß Freiheit.
Harriet begab sich auf die Underground Railroad – auf eine lebensgefährliche Reise durch wadentiefe Sümpfe, Kanäle und Wälder – von Spürhunden und von Kopfgeldjägern gehetzt. Nur im Schutz der Nacht kam sie vorwärts. Im Morgengrauen versteckte sie sich in den Häusern befreundeter Familien, Safe Houses. Ihr Ziel: Philadelphia, das den Sklav*innen Freiheit gewährte. Auf den unsichtbaren Gleisen flohen andere über die Nordstaaten bis nach Kanada.
Die Spurensuche führt zurück nach Cambridge an der Chesapeake Bay, der größten Flussmündung der USA. Die Kleinstadt mit Hafen war einst ein wichtiger Handelsplatz für Sklav*innen. Im 17. Jahrhundert machten hier die ersten Sklav*innenschiffe fest. Die Vorfahren der Afroamerikaner*innen trafen an der Ostküste auf ihre Peiniger*innen, wurden auf Marktplätzen wie Vieh ins ganze Land verkauft. Heute dümpeln am Anleger Fischerboote vor sich hin. Austernfischerei hatte einst Reichtum gebracht. Heute sind die natürlichen Muschelbänke leergefischt. Fluchthelfer*innen werden diesen Ort auf ihren Rettungsaktionen gemieden haben. Die Staatsmacht saß hier. Vor dem Gerichtsgebäude im Stadtzentrum fanden regelmäßig Sklav*innenauktionen statt. Auf der Tour-App beschreiben Zeitzeug*innenberichte tumultartige Szenen. Familien wurden auseinandergerissen, einige nutzten das Durcheinander zur Flucht.
Am Ortseingang weist ein 50 Quadratmeter großes Wandgemälde auf die aufwühlende Vergangenheit hin: Das Bild zeigt Tubman in Überlebensgröße inmitten der afroamerikanischen Gemeinschaft der Region. Die Perspektive ist verschoben. Nicht wir schauen auf Harriet, sondern sie fixiert uns als Betrachter*innen. Maler Michael Rosato sagt, er habe Tubman ins Zentrum seines Bildes gesetzt, weil sie für viele Afroamerikaner*innen eine Inspiration war: »Viele dachten: Wenn sie das kann, dann kann ich das auch. Harriet hat ein spirituelles Erbe hinterlassen.«
Dieses Erbe sorgte für eine aktive schwarze Bürgerrechtsbewegung in Cambridge – nur ein paar Kreuzungen weiter in der Pine Street. Geschäfte, Cafés und Schulen belebten einst die Straße der schwarzen Community. Bis es in den 1960er Jahren zu Aufständen und Straßenkämpfen mit der Polizei kam. Auch daran erinnert das Wandbild von Michael Rosato. »Das Bild erzählt diese Geschichte der afroamerikanischen Gemeinschaft«, erläutert Rosato. »Harriet Tubman steht für die unbändige Geisteskraft, die dies alles erst ermöglicht hat.«
Und so schließt sich der Kreis in Cambridge. Hier, wo heute die gestressten Hauptstädter*innen Erholung suchen, wo jährlich ein Mini-Oktoberfest gefeiert wird, haben Verwaltung und Historiker*innen ein Fenster in die Vergangenheit weit aufgerissen. Kaum ein Besucher vergisst Tubmans Blick. Dabei geht es auch um die Würde der Afroamerikaner*innen und um eine späte Wiedergutmachung, mit der sich so viele US-Amerikaner*innen und Regierungen so schwertun.
Tubman verhalf nicht nur Hunderten Landsleuten in die Freiheit, sie kämpfte im Bürgerkrieg für die Union gegen die Südstaaten, kundschaftete Stellungen der Konföderierten aus und befreite Gefangene. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hat man ihr trotz ihrer Verdienste eine Pension verweigert. Erst im hohen Alter, kurz vor ihrem Tod 1913, erhielt sie eine monatliche Rente für ihre Arbeit als Krankenpflegerin. Sie wurde 91 Jahre alt.
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