- Politik
- »Letzte Generation«
»Wir sind der Feueralarm«
Das Recht wird weit ausgelegt, um Klimaaktivismus anzugreifen, findet die Rechtsberaterin der »Letzten Generation«
Ihre Bewegung will mit Straßenblockaden auf den Klimawandel aufmerksam machen. Bei Autofahrer*innen und in der Politik sorgte das für Unmut: Der Bundesjustizminister behauptete gar, das deutsche Recht erlaube keinen zivilen Ungehorsam. Was steckt dahinter?
Der Staat hat Angst, zur Verantwortung gezogen zu werden und geht deshalb übertrieben hart gegen Klimaaktivist*innen vor. Aktive der »Letzten Generation« wurden schon öfter in präventiven Gewahrsam genommen. In Frankfurt saßen Aktivist*innen fünf, sechs Tage hinter Gittern in einer gefliesten Polizei-Zelle mit Pritsche und Milchglasfenster. Da kommen Gesetze aus der Logik der Terrorismusabwehr zur Anwendung.
Mirjam Herrmann ist Jura-Studentin und unterstützt die Festkleb-Aktivist*innen der »Letzten Generation« als Rechtsberaterin. Benjamin Beutler sprach mit ihr über das 1,5-Grad-Ziel, Autoblockaden und den Vorwurf der Nötigung.
Auch Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) verurteilt die Sitzblockaden, Autofahrende seien gefährdet, weil sie zu »einer Vollbremsung gezwungen werden«, und sie müssten »in langen Staus stehen, um nicht in die Gefahr zu kommen, jemanden zu überfahren«.
Das ist der Vorwurf des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr. Ich halte das für vorgeschoben. Die Aktionen starten ausschließlich bei stehendem Verkehr, an roten Ampeln. Die Autos stehen schon, was soll da Gefährliches passieren? Fürs Festkleben an der Straße wirft die Polizei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vor. Technische Mittel des Festklebens würden benutzt, um passiven Widerstand gegen das Wegtragen zu leisten. All diese Tatbestände existieren, haben ihre Berechtigung, werden aber teilweise sehr, sehr weit ausgelegt, um Klimaaktivismus irgendwie angreifen zu können. Und dann steht der Vorwurf der Nötigung im Raum. Weil Autofahrer*innen dazu gebracht werden, stehen zu bleiben, obwohl sie eigentlich weiter fahren wollen.
Der zivile Ungehorsam versteht sich als politische Demonstration. Hebelt Nötigung das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus?
Um nach Paragraf 240 Strafgesetzbuch eine Nötigung zu begehen, muss eine Person rechtswidrig durch Gewalt oder deren Androhung genötigt werden, etwas zu tun oder zu unterlassen. Für die Rechtswidrigkeit muss allerdings zwingend die »Verwerflichkeit« nachgewiesen werden.
Jemanden zu nötigen, indem man ihn nicht durch die Tür lässt, um dann das Portemonnaie zu klauen, das wäre verwerflich?
Genau. Oder jemanden zu nötigen mit der Absicht zu schaden oder etwas kaputtzumachen. Eine Person wegzudrücken, um jemanden zu retten, das wäre nicht verwerflich. Autos nicht durchzulassen und zu stören, um auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen, das ist auch nicht verwerflich.
Im Herbst soll es neue Aktionen geben. Gegen die Blockaden werden verbal große Geschütze aufgefahren. Berlins Innensenatorin Spranger sagt: »Wer sich auf Straßen festklebt, möchte Politik und Gesellschaft erpressen, der Zweck heiligt nicht die Mittel.«
Das Bundesverfassungsgericht hat die Straßenblockade als ganz normale Versammlung anerkannt. Eine Straßenblockade ist also von Artikel 8 des Grundgesetzes geschützt. Dieses Recht der Versammlungsfreiheit, um den politischen Prozess zu beeinflussen und auf Anliegen hinzuweisen, wird in der Verwerflichkeitsprüfung abgewogen gegen das Grundrecht auf freie Beweglichkeit. Es gibt vom Bundesverfassungsgericht Urteile zu Straßenblockaden, bei denen keine Nötigung festgestellt wurde, weil es nicht »verwerflich« war, sondern eine notwendige Versammlung. Eine Versammlung, die in einem Park den gleichen Effekt erzielen würde, muss nicht auf einer Straße stattfinden und Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit stören. Wenn die Versammlung die Straßenblockade aber braucht, um ihren Zweck zu erfüllen, dann ist es gerechtfertigt, dass andere Menschen dafür im Stau stehen.
Jemanden zum Nachdenken körperlich aufzuhalten, kann also ein gerechtfertigter Zweck sein?
Ja. Bei der »Letzten Generation« ist dieser Zweck, den das Bundesverfassungsgericht fordert, eindeutig der Fall. Die Störung ist essenzieller Bestandteil der Versammlung. Die ganze Aktion ist ein Weckruf gegen die Verdrängung der Klimakrise durch die Gesellschaft. Sie sitzen auf der Straße, mit Forderungen auf Bannern, die Menschen sind gestört in ihrem Alltag und müssen sich damit auseinandersetzen: Warum sitzen die da? Was ist die Krise? Was kann ich dafür? Die Politik kann diese ärgerliche Störung nicht so leicht ignorieren.
In sozialen Medien war zu sehen, wie Ulf Poschardt, Chefredakteur der »Welt«, wütend auf Aktivisten losgeht und später erklärte, ein Gespräch mit der »grünen Verbitterungsbourgoisie« sei unmöglich. Grünen-Bundesagrarminister Özdemir meint, die Protestform würde die große Mehrheit abschrecken, »wenn man Krankenwagen, Polizei oder Erzieherinnen auf dem Weg zur Arbeit blockiert«. Ähnliche Kritik kommt teils von links: die Klimaproteste seien das Anliegen privilegierter Menschen, der einfache Arbeiter habe ganz andere Sorgen …
Natürlich bin ich in einer privilegierten Lage, mich für Klimaschutz zu engagieren. Aber es ist doch gerade deswegen meine besondere Verantwortung, dieses Privileg für eine Sache einzusetzen, die letzten Endes die »normal« arbeitenden Menschen mehr trifft als Privilegierte. Deutschland wird 2026 das 1,5-Grad-Ziel reißen. Darum müssen wir so nerven: Es brennt und wir sind der Feueralarm.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.