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»Meine Währung ist Wichse«
Heinz Strunks neuer Roman »Ein Sommer in Niendorf« setzt seine vergnüglich-schauerliche Dekonstruktion der Welt fort
Ein Typ erklärt am Tresen die Welt: »Nenn mir einen einzigen sachlichen Grund, Tempo 130 einzuführen, nur einen einzigen!« Sein Zuhörer, »Pflaumenaugust«, ist ratlos, also legt der Liebhaber der grenzenlosen Geschwindigkeit mit krachenden Argumenten nach: »In Litauen, wo die Höchstgeschwindigkeit im Sommer auf 130, im Winter auf 110 begrenzt ist, ist die Zahl der Toten mit 5,3 Toten bei einer Milliarde Autobahnkilometer doppelt so hoch. Und jetzt kommst du!« Weniger der etwas seltsame Legitimierungsversuch, um den entfesselten Thrill auf vier Reifen erleben zu können, mag überzeugen, als die gelungene Charakterisierung dieses Schwadronierers, dessen Visage binnen Sekunden vor unserem inneren Auge entsteht. Genau darin besteht die unglaubliche Meisterschaft des Heinz Strunk. Wie schon in seinen vergangenen, herzhaft-abschreckenden Romanen sammelt er auch in seinem aktuellen viele solcher Perlen auf Straßen und in Kneipen auf.
Diesmal befinden wir uns zumindest streckenweise auf ansehnlichem Terrain, nämlich im beschaulichen Niendorf. Alles steht bei Roth auf Neuanfang, ein Zuversicht versprechender Job erwartet ihn in einigen Monaten, zudem will er in dem Ostseebad, das Bezüge zu seiner familiären Vergangenheit aufweist, endlich einen Prosatext schreiben. Dazu hört er sich nicht nur Aufnahmen seiner Vorfahren an, sondern setzt sich auch mit der Schriftstellergruppe 47 auseinander, die dort im Jahr 1952 zusammentraf. Die Devise lautet wohl – in prometheischer Selbstüberschätzung: Messe dich an den ganz Großen! Dies gilt auch für die Liebe. Als der Protagonist in seiner Ferienwohnung zufällig auf den dokumentierten, letztlich eine unmögliche Liaison d’amour thematisierenden Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann trifft, worin sich Sätze wie »Das ist ein Sommer ohne Ende, und ich frage mich, was werden soll nach alldem« finden, fallen ihm nur die Worte »Ganz schön traurig« ein. Ganz schön schlicht, denken wiederum die Leser*innen.
In derlei Referenzen daher allzu bedeutsame Subtexte entdecken zu wollen, wäre eine falsche Ambition, gehört es doch gerade zu Strunks verspielter, man könnte auch sagen kulturpessimistischer Strategie, gelegte Fährten gezielt ins Leere laufen zu lassen. So lernt sein Held zwischen Chantré-Eskapaden und Spielautomaten unzählige Zeitgenossen in der Spelunke »Spinner« kennen, von denen keiner nachwirkt. Einzig der klebrige Vermieter Breda verfolgt ihn Tag und Nacht. Er »sieht aus wie eine Schnecke, die jemand gegen eine Wand geworfen hat und die nun in Zeitlupe zu Boden gleitet«. Er verkörpert das gesamte Ekeluniversum des Schriftstellers, dessen Urknall wir schon in seinem markantesten Werk über den Serienmörder Fritz Honka, »Der goldene Handschuh«, beiwohnten. Dafür genügt ein Satz über dessen Speiseverhalten: »Er schmiert Sour Cream auf einen der übrig gebliebenen Fleischtrümmer und schiebt ihn sich mit vor Genuss verdrehten Augen in den Mund.«
Ähnlich dieser Szene findet sich in Roths Urlaub anfangs wenig Ersprießliches. Immer häufiger schießt er sich mit Alkohol ab, überdies gewinnt er bei Frauen keinen Blumenkorb und sein Buch bleibt lediglich eine Idee. Doch am schlimmsten mutet unterhalb der Oberfläche des wiederum genialen schwarzen Humors die Einsamkeit an. Sie bildet die eigentliche Perspektive des Misanthropen heraus. Was der Protagonist daher auch wahrnimmt, wird sogleich durch den Fleischwolf des Sarkasmus gedreht. Statt als Individuen erscheinen die Menschen dieses schmoddrigen Kosmos aus Adipositas, Verzweiflungssuff und Krankheit oft als bloße Plakate ihrer selbst, mithin als Rollenträger, die aufgrund der eigenen inneren Leere nur noch fremde Sätze, zusammengewurschtelt aus Werbung, Witzen und Volksweisheiten auf ihren Lippen tragen. Zahlreiche laufen daher selbst im idyllischen Niendorf, um so ein weiteres Bonmot Strunks zu nutzen, »auf der Felge«. Dass Roth zuletzt doch noch Erfolg bei einer Dame haben und sein Dasein auf den letzten drei Seiten unversehens eine Wende erfahren wird, ist im Grunde sehr unrealistisch, aber es fügt sich wiederum genial in die Komposition des Romans.
Indem Strunk seinem Protagonisten somit eine späte Erlösung zubilligt, setzt er sich ferner von einer tatsächlich sich lose, aber konsequent durch den Text ziehenden Vorlage ab, nämlich Thomas Manns Novelle »Der Tod in Venedig«. Darin begegnen wir einem solitären Charakter, der sich in den jungen Tadzio verliebt und zugleich als Autor zu erkennen gibt. Roth hegt immerhin den Vorsatz, Literatur schreiben zu wollen und schreckt auch nicht davor zurück, die weitaus jüngere Bardame Savina zu stalken. Nur bleibt eben Strunks Helden im Gegensatz zu Gustav von Aschenbach das Sterben erspart.
Alles andere unterliefe auch Strunks Ästhetik, die gänzlich auf Abgrenzung und Dekonstruktion basiert. Dem allzu manierierten Stil des modernen Klassikers setzt er eine Sprache des Kleinbürgerlichen und Ordinären entgegen, eine, die alles entweiht und die Welt brutal entzaubert. »Meine Währung ist Wichse«, verkündet eine abgehalfterte Gestalt in der Bierkaschemme, und ein Blowjob kommt einem Warmlaufen eines Motors gleich: »Im Kessel wird Wasser erhitzt, damit Dampf entsteht. Der Druck des Dampfes setzt den Kolben in Bewegung […]. Die andauernde Hin- und Her-Bewegung des Kolbens treibt das Rad.« Es ist genau dieses Übereinanderlegen unterschiedlichster metaphorischer Schichten, die Strunks – in mancherlei Hinsicht an Postdramatikerinnen wie Elfriede Jelinek oder Kathrin Röggla anknüpfendes – Schreiben zu seiner gesellschaftskritischen Ausdrucksschärfe verhilft. Veranschaulicht wird darin, wie sehr Systeme wie der Kapitalismus und der technische Fortschritt alle Räume unseres Denkens, Fühlens und Wahrnehmens infiziert und jedwede Romantik als Illusion entlarvt haben.
Nicht zu vergessen ist bei all dem intellektuellen Über- oder Unterbau natürlich die Komik. Nur wenige Kolleginnen und Kollegen seiner Generation vermögen an die schelmische Pointierheit, an die durchweg lustige Form heranzukommen, wie sie Strunk mit jedem Buch erneut kreiert. Gewiss schwingt in ihr das Bewusstsein der Unheilbarkeit der Menschheit mit. Gleichzeitig birgt sie ein Quantum Trost. Sie nimmt der ohnehin von Aporien und Agonien gezeichneten Gegenwart zumindest für die Zeit der Lektüre ein wenig ihre Ernsthaftigkeit. So kann man »Ein Sommer in Niendorf« auch als eine Übung in Leichtigkeit betrachten. Kein Absturz währt ewig, so die Botschaft. Trotz Kater gibt es immer einen Sonnenaufgang, ganz wie im Schlager für alle geschundenen Herzen.
Heinz Strunk: »Ein Sommer in Niendorf«, Rowohlt, geb., 240 Seiten, 22 Euro.
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