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Finale verloren, Herzen gewonnen
Der Hype um die deutschen Fußballerinnen bei der EM kann den Sport und die Gesellschaft voranbringen
Es ist ein Titel, an den sich der deutsche Fußball der Frauen erst noch gewöhnen muss – Vizeeuropameister. Wer zwischen 1989 und 2013 insgesamt achtmal das Endspiel gewann, der muss sich erst einmal sammeln, wie es Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg nach dem mit 1:2 in der Verlängerung verlorenen Finale gegen England tat. »Vizeeuropameister hört sich eigentlich gut an – aber es tut auch ein bisschen weh«, sagte sie. Und doch machte es ja keinen Unterschied mehr zu einer in der Vergangenheit gewonnenen Welt- und Europameisterschaft: Am Montag wurde das deutsche Frauennationalteam auf dem Frankfurter Römer begeistert gefeiert. Am Tag zuvor hatten 17,9 Millionen Menschen an den Fernsehgeräten mitgefiebert, was allein die neuen Dimensionen verdeutlicht, in denen die Frauen jetzt spielen.
Der Empfang in der Heimat machte den Protagonistinnen endgültig klar, wie viele Herzen sie trotz eines zweiten Platzes erreicht haben. »Wir haben in unserer Blase ja nicht so viel mitbekommen«, sagte Martina Voss-Tecklenburg. Die 54-Jährige ist überzeugt davon, dass die beste Zeit für ihr Ensemble erst noch kommt. Und vielleicht ist es nicht verkehrt, aus dem unerfüllten Titeltraum noch Ansporn zu schöpfen. »Es hat nicht ganz gereicht, aber das wird uns dazu führen, den nächsten Schritt zu machen«, versicherte die Überzeugungstäterin vom Niederrhein. In nicht einmal einem Jahr findet die Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland statt. »Wir werden hoffentlich zur WM fahren als Mannschaft, die wieder begeistert, die mutig spielt«, blickte die Bundestrainerin voraus. Wie bei ihrem ersten Turnier 2019 in Frankreich im Viertelfinale auszuscheiden, kommt nach diesem EM-Auftritt nicht infrage. Voss-Tecklenburg soll bald einen langfristigen Vertrag beim Deutschen Fußballbund (DFB) unterschreiben, der pro Spielerin jetzt 30 000 Euro Prämie für die Finalteilnahme überweist.
Aber um Geld ging es gar nicht, als Voss-Tecklenburg über eine goldene Zukunft sprach. Ihr ist wichtig, dass diese zusammengewachsene Gemeinschaft auch zusammenbleibt. Ihre hoch geschätzte Abwehrchefin Marina Hegering versicherte als mit 32 Jahren älteste Spielerin sofort, dass sie weitermache. Wobei die ersten Länderspiele nach der EM, die letzten WM-Qualifikationsspiele in Bulgarien am 3. September und der Türkei drei Tage später, stimmungstechnisch einen Rückfall in die Steinzeit bedeuten dürften: Statt 87 192 Fans wie in Wembley werden sich sehr wahrscheinlich wieder nur wenige hundert Zuschauer in einem Provinzstadion verlieren. Danach hat der DFB immerhin im Herbst ein hochklassiges Länderspiel gegen Frankreich geplant, zuletzt wurde mit den TV-Anstalten um die Anstoßzeit gerungen. Die Neuauflage des EM-Halbfinales im Nachmittagsprogramm zu verstecken, wäre unerhört.
Nachhaltiges Interesse wünscht sich auch Kapitänin Alexandra Popp, die beim Aufwärmen merkte, dass sie wegen einer Zerrung im Oberschenkel »keinen Schuss abgeben konnte, der fester als ein Rückpass war« – und deshalb für das Finale passen musste. Nach der ersten Enttäuschung aber urteilte sie: »Uns allen ist klar, dass wir einiges bewegt haben.« Da gelte es weiterzumachen. Ersatzkapitänin Svenja Huth hofft, »dass das nur der Anfang war von dem Hype in Deutschland. Wir wollen die Zuschauer nachhaltig binden: Der Markt ist vorhanden, aber wir müssen ihn natürlich auch bespielen.«
Für den finalen Schritt auf den Thron braucht es noch eine Prise mehr Power. In der Abwehr muss besser geklärt werden, als es Kathrin Hendrich vor dem entscheidenden 1:2 der Engländerinnen tat. Und vorne braucht es entschlossene Alternativen, wie sie der neue Europameister mit seinen Torschützinnen Ella Toone und Chloe Kelly auf den heiligen Rasen bringen konnte. Auf deutscher Seite blieb die Hereinnahme der ja eigentlich zur Rechtsverteidigerin umgeschulten Nicole Anyomi als Außenstürmerin diskutabel. Und warum kam mit Laura Freigang nicht eine klassische Torjägerin, wo doch Popp und Klara Bühl fehlten und Lea Schüller nach ihrer Corona-Erkrankung fast ohne Wirkung blieb? Voss-Tecklenburg wollte auf den verpufften Effekt ihrer Einwechselspielerinnen indes nicht eingehen. Noch ist niemand perfekt – auch die Bundestrainerin nicht.
Nach der Siegerzeremonie, bei der die extrem enttäuschte, weil im Finale ebenfalls nicht so wirkungsvolle Mittelfeldspielerin Lena Oberdorf den Preis als beste Nachwuchsspielerin erhalten hatte, fanden Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und Innenministerin Nancy Faeser den Weg in die deutsche Kabine. Joti Chatzialexiou, sportlicher Leiter Nationalmannschaften beim DFB, stellte das Versprechen des Kanzlers heraus, »dass er den Frauenfußball auch in Zukunft so unterstützen möchte, damit wir das Turnier nachhaltig mit nach Deutschland nehmen können«. Da hörte sich einer so an, als würde er die hohe Politik ansonsten sehr zeitnah daran erinnern, den (Frauen-)Sport in Deutschland endlich mehr wertzuschätzen.
In diesem Duktus verabschiedete sich auch Voss-Tecklenburg aus London, die als eine der überzeugendsten Botschafterinnen der EM von einer Reise sprach, die sich wie ein Rausch anfühlte. Ihre Bitte: »Es wäre wirklich schade, wenn diese Reise nicht auch dazu führt, dass viele andere mitgenommen werden, dass man den Weg in der Gesellschaft findet, Frauen als starke Personen anzuerkennen. Wir haben ein Statement gesetzt.« Ein besseres Schlusswort hätte es nicht geben können. Für einen Vizeeuropameister, der auch ohne Trophäe in England ganz viel gewonnen hat.
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