- Kultur
- Debütroman von Gerda Blees
Hunger und Fantasie
Mysteriöser Tod in einer Wohngemeinschaft
Im Grunde ist die Geschichte, die die junge niederländische Autorin Gerda Blees (Jahrgang 1985) in ihrem Romanerstling erzählt, von enormer Schlichtheit: In einer Wohngemeinschaft, bestehend aus drei Frauen und einem Mann, wird beim Eintreffen des Notarztes eine Tote vorgefunden, anscheinend ist sie verhungert: Elisabeth, die Älteste und die Schwester von Melodie. Doch die anderen drei Bewohner sind ebenso unterernährt. Bei Vernehmungen auf der Polizeiwache stellt sich heraus, dass dieser Zustand der Auszehrung auf das Betreiben von Melodie zurückgeht. Sie wirkt auf ihre Mitbewohner charismatisch und verficht ein Programm aus purem Irrsinn und falsch verstandenem Energie- und Umweltbewusstsein, das die ideologische Grundlage der Wohngemeinschaft darstellt.
Immer deutlicher zeichnet sich aber auch ab, dass diese vier sehr verschiedenen Menschen von einer tiefen Einsamkeit geprägt sind und dass sie sich vor diesem existentiellen Ab- und Hintergrund in ihre kleine Gemeinschaft geflüchtet haben. Ja, vom Ende her – und das ist ein weiterer Verbindungspunkt – keimt in ihnen das Bewusstsein, einem Selbstbetrug erlegen zu sein. Statt sich – jeder Einzelne – der fatalen Situation zu stellen, den Wahnsinn ihrer Nahrungsverweigerungsidee zu bekämpfen und sich aus und von der Gruppe zu lösen, spielen sie das gewohnte Spiel einfach weiter. Auch nach ihrer Entlassung aus dem Polizeigewahrsam: »Die Sonne fällt in großen, eckigen Flächen auf die Straße, es gibt kaum Schatten. Bald werden sie vor ihrem Haus stehen, und noch immer stimmen die Geschichten, die sie sich selbst erzählen, nicht mit der Wahrheit überein.«
Wie gesagt: Eigentlich eine einfache Geschichte über Einsamkeit und falsche Bindungen. Doch Blees verkompliziert den Plot durch ihre Erzählstrategie, indem sie in den insgesamt 25 Kapiteln dieses Romans die unterschiedlichsten Perspektiven einnimmt, Perspektiven, die von der »Nacht« über den »Tatort« und das »tägliche Brot« bis zum »Entsafter« oder zum »Licht« reichen und damit vermeintlich Einfaches in verästelter Komplexität und mäandernder Vielfalt verzeichnen. Blees’ Erzählen nutzt die u. a. in der Märchenpädagogik etablierte didaktische Aufgabe: Stell dir zum Beispiel die Geschichte von Schneewittchen vor und erzähle nun das Geschehen aus der Sicht der bösen Königin, des siebten Zwerges oder des gläsernen Sarges.
Der enorme Mehrwert – und darüber reflektiert Blees an verschiedenen poetologischen Stellen ihres raffinierten Romans – besteht darin, dass die Leserin und der Leser gezwungen werden, sich selbst eine Antwort auf die »Versuchsanordnung« (wie man mit dem Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff sagen könnte) zu geben. Das Ende ist offen, es liegt einzig im Fantasiepotenzial des Lesenden und Interpretierenden: »Wir möchten nur, dass Sie diese Szene betrachten: von der Wohnzimmertür aus gesehen das Profil einer Frau, das sich dunkel von der stundenglasförmigen Gardine vorm Fenster der Tür abhebt; von der Haustür aus betrachtet ein in oranges Licht getauchtes Frauengesicht mit Tränenspuren auf den Wangen, das jetzt wieder ganz dem orangen Licht zugewandt ist, und dann wieder die Wohnzimmertür. Eine Frau, gefangen im Zwischenraum, im Fegefeuer, nicht drinnen und nicht draußen, und jedes Mal, wenn ein Auto durch die Straße fährt und ein gelblicher Scheinwerferkegel hereinscheint, hält sie den Atem an, und wenn der Lichtkegel vorübergeglitten ist, atmet sie wieder aus und kehrt zurück zum Zwiespalt.«
Gerda Blees: Wir sind das Licht. A. d. Niederl. v. Lisa Mensing. Zsolnay, 240 S., geb. 23 €
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