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Gassüchtige Industrie
Die Umstellung auf Erdöl oder Strom ist auf die Schnelle oft nicht zu meistern
In der aktuellen Berichtssaison für das zweite Quartal des Jahres taucht diesmal eine zuvor völlig unterbelichtete Frage an die Unternehmen auf: Wie halten sie es mit dem Gas? Der Kunststoffkonzern Covestro teilte Mitte dieser Woche mit, man bereite sich auf einen möglichen Erdgasmangel in Deutschland vor. Zur kurzfristigen Senkung des Gasbedarfs seien verschiedene Maßnahmen wie etwa die Umstellung auf ölbasierte Generatoren zur Dampferzeugung getroffen worden, so das Chemieunternehmen aus Leverkusen. Zudem werde weiter an den Produktionsprozessen gearbeitet, um angesichts hoher Preise den Gas- und Energieverbrauch zu senken.
Doch es gibt auch andere Stimmen: Robert Friedmann, Konzernchef der Würth-Gruppe aus Baden-Württemberg, schreckte kürzlich die Fachwelt mit dem Satz auf, Umstellungen scheiterten oft bereits an Lieferproblemen. Der Großhändler und Produzent von Befestigungstechnik will seine Öfen, die das Material von Schrauben härten, von Gas auf Strom umstellen. »Die benötigten Bauteile haben aber eine Lieferzeit von zwölf Monaten«, sagte Friedmann der »FAZ«.
Vom Gesamtverbrauch an Erdgas entfällt in Deutschland ein gutes Drittel auf die Industrie. Dabei setzen gewerbliche Unternehmen Gas oft anders ein als private Haushalte, die damit heizen. Beispielsweise zur Befeuerung von Öfen, in denen Spezialglas bei mehr als 1000 Grad Celsius verarbeitet wird. Es ist effizienter, solche Anlagen über Jahre hinweg laufen zu lassen, als sie auszukühlen. Und weil die Betriebe rund um die Uhr produzieren, verbrauchen sie witterungsunabhängig das ganze Jahr hindurch Erdgas – private Haushalte verbrauchen dagegen am meisten Gas im Winterhalbjahr.
Erdgas wird zudem als Rohstoff verwendet, vor allem für die Dünger- und Grundstoffproduktion in der chemischen Industrie. Auf diesen nicht energetischen Einsatz entfällt etwa ein Zehntel des Industrieverbrauchs an Gas. Eine Herausforderung ist auch, dass einzelne Produktionsschritte oft stark miteinander verzahnt sind; eine Einheit Erdgas erfüllt dann mehrere Aufgaben, zum Beispiel Hitze zu erzeugen und Wasserstoff für chemische Reaktionen bereitzustellen.
Im Ergebnis bietet die Industrie eine Gemengelage, die eine für Notfälle vorgesehene Mängelverwaltung durch die Bundesnetzagentur erschweren würde. Technisch am einfachsten geht die Umstellung dort, wo wie bei Würth Gas »nur« als Energieträger eingesetzt wird. Industriekraftwerke können dennoch in der Regel nicht kurzfristig auf Öl oder Biomethan umgestellt werden. Sie erzeugen neben Strom auch Prozesswärme, die vor Ort benötigt wird. Eine Umstellung auf Strom oder Öl kann dann den kostspieligen Umbau der ganzen Produktionsanlagen nach sich ziehen. Ob und wo dies kurzfristig möglich erscheint, ist unklar und hängt von vielen Faktoren ab, etwa wann die zusätzliche Technik lieferbar ist oder ob genügend Handwerker verfügbar sind. Eine Umstellung bis zu diesem Winter ist laut Fachinformationsdienst »Science Media Center Germany«, der eine Reihe wissenschaftlicher Studien ausgewertet hat, lediglich für wenige Anlagen möglich.
Auch die Stahlindustrie verbraucht 2,1 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr. Diese Menge macht 2,3 Prozent des gesamten Verbrauchs in Deutschland und rund 6 Prozent des industriellen Bedarfs aus. »Ohne ausreichende Erdgasmengen sind sowohl die Rohstahlherstellung als auch die Weiterverarbeitung unmöglich«, zeigt sich die Wirtschaftsvereinigung Stahl in Berlin überzeugt.
Erdgas wird auch in der Stahlindustrie vor allem zur Erzeugung von Prozesswärme eingesetzt. Das erscheint simpel, ist aber in der Praxis anspruchsvoll. So geht es unter anderem darum, »Heißwind« am Hochofen zu erzeugen, die Unterfeuerung der Kokereien sicherzustellen, Transportgefäße vorzuwärmen und Wiedererwärmungsöfen in den Walzwerken in Betrieb zu halten. Gas wird zudem in Wärmebehandlungsöfen, zur Oberflächenbehandlung sowie aus sicherheitstechnischen Gründen zur »Stützfeuerung« oder in Sicherheitseinrichtungen wie Fackeln benötigt.
Kurzfristig ist Erdgas in diesen Prozessen kaum ersetzbar, schreibt die Wirtschaftsvereinigung Stahl in einem Positionspapier, welches dem »nd« vorliegt. »Für eine generelle Umstellung auf Wasserstoff oder, wo möglich, Induktion, stehen die Brennertechnologien noch nicht zur Verfügung.« Zudem wären erhebliche Umbauten, neue Netzanschlüsse und Genehmigungen erforderlich.
Langfristige bürokratische Verfahren durch die Behörden treiben auch den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) um. BDI-Präsident Siegfried Russwurm auf Anfrage: »Die Behörden sollten Brennstoffwechsel für Unternehmen kurzfristig mit schnellen und einfachen Genehmigungen ermöglichen.« Die Industrie erwarte zudem noch im Sommer von der Bundesregierung ein klares Startsignal für Auktionen, die es ermöglichen, dort Gas zu sparen, wo die Kosten am geringsten sind.
Die Bundesnetzagentur bereitet diese aber längst vor. Nach Angaben von Behördenchef Klaus Müller soll das geplante Auktionsmodell durch die deutsche Industrie »ab dem 1. Oktober funktionieren«. Hierbei geht es darum, dass Industriekunden, die auf Gas verzichten können, ihren Verbrauch gegen ein Entgelt verringern, das über den Markt finanziert wird – sie stellen Gas zur Verfügung, damit es eingespeichert werden kann.
Kurzfristige Alternativen wie Strom oder Erdöl sind in Deutschland und der Europäischen Union hingegen nicht beliebig vermehrbar. Aus Sicht der Rohstoffanalysten von Deutscher und Commerzbank produzieren die erdölfördernden Staaten bereits bis zum Anschlag. »Mehr geht kaum.«
Nun dienen die pessimistischen Einschätzungen von Unternehmensvertretern auch Lobbyzwecken, gerade mit Blick auf die Debatte um Priorisierung im Falle einer Mangellage, falls die Gaslieferungen aus Russland vollständig enden sollten. Und die Aussagen sind nicht in Stein gemeißelt, schließlich betreten Wirtschaft wie auch Wissenschaft Neuland. Aber offenbar ist der sofortige Ersatz von Erdgas durch Öl oder Strom in manchen Bereichen technisch nicht so einfach. Dort geschieht auch die Umrüstung von Anlagen nicht von heute auf morgen. Wie Würth-Boss Friedmann sagte: »Wir kommen weg vom Gas. Schnell geht aber nichts.«
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