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- Strickkollektiv »Koldbath«
»Wir fordern die Integration wirklich heraus«
Cara Boccieri versteht sich als soziale Unternehmerin. In Göteborg betreibt sie das Strickkollektiv »Koldbath«, in dem Migranten und Renterinnen zusammenfinden.
Frau Boccieri, Sie sind in New York geboren, haben einen beruflichen Hintergrund als Forscherin und sind Gründerin eines Kollektivs, in dem Frauen, die gerade erst in Schweden angekommen sind, gemeinsam mit Rentnerinnen Kleidung spinnen. Wie kam es dazu?
Cara Boccieri (38), lebt seit 2020 in Schweden und gründete im gleichen Jahr den wirtschaftlichen Verein »Koldbath«. Die gebürtige New Yorkerin wohnte zuvor 15 Jahre lang im Ausland. Sie verbrachte unter anderem viele Jahre in Thailand und Australien, während sie an der Forschung zu Migration und Konflikten arbeitete.
Ich habe meinen Master bei der UN gemacht, danach habe ich Forschungsdesigns erstellt. Dabei standen bei mir immer Menschen im Fokus, die von Migration und Konflikt beeinflusst waren. Es ging mir darum, ihre Probleme zu identifizieren und zu hören, welche Lösungen sie dafür haben. Ich wollte deshalb so nah wie möglich mit ihnen arbeiten, und ich wollte unser Modell der humanitären Hilfe herausfordern, das ich für eines von Machtungleichheiten und erzwungener Abhängigkeit halte.
Was meinen Sie mit erzwungener Abhängigkeit?
Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, ob wir es nun wollen oder nicht. Und auf der ganzen Welt wird manchen Leuten, die aus verschiedenen Gründen in marginalisierten Gemeinschaften leben, gesagt, dass sie nicht wertvoll genug sind, um überhaupt diese Gesellschaft zu betreten, in der wir Waren, Dienstleistungen und Geld austauschen. Deshalb wird Angehörigen marginalisierter Gruppen auf der ganzen Welt erzählt, dass sie von einem Charity-System abhängig bleiben müssen, das, wie ich glaube, nur auf Machtdynamiken beruht. Zum Beispiel haben mir Menschen während meiner Forschung gesagt: »Wir müssen nicht abhängig sein. Wir haben Skills. Wir haben Ressourcen. Und wir wollen sie nutzen, um auf den Markt zu kommen. Wir haben aber keinen Zugang zum Markt, weil wir dazu gezwungen sind, in einem Geflüchtetencamp zu leben und von Hilfsleistungen abhängig zu sein.« Ist das eine Notwendigkeit? Nein. Wir bringen Menschen in diese Position.
Und warum in Schweden?
Ich habe viele Jahre in Thailand gelebt und das Land nicht freiwillig verlassen. Während der Pandemie gab es einen politischen Aufstand, plötzlich wurde mein Visum gecancelt und ich hatte nur noch zwei Wochen, um das Land zu verlassen. Ich bin US-Bürgerin und während der Pandemie waren wir in keinem Land willkommen. Und weil ich als Erwachsene gar nicht in den USA gelebt habe, wollte ich dort auch nicht hängenbleiben. Schweden war das einzige Land, das mich hereingelassen hat.
Warum sind Sie geblieben?
Ich hatte das Gefühl, dass ich diese neue Herausforderung annehmen möchte und dass meine Arbeit hier relevant sein würde. Schweden hat, im Gegensatz zu Thailand und anderen Orten, an denen ich gewohnt habe, eine offene Migrationspolitik. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass in der praktischen Umsetzung immer noch etwas fehlt. Ein Beispiel ist etwa, dass 80 Prozent der neu angekommenen Frauen für einige Jahre arbeitslos bleiben. Ich sah also, dass es hier noch Möglichkeiten für mich gab, etwas zu tun.
Und dann kamen Sie zu der Idee des Social Entrepreneurship?
Ja, das ist immer meine Lösung. Aber im Ernst, wir fordern das Konzept der Integration wirklich heraus. Ich meine, warum sind vier von fünf neu angekommenen Frauen in Schweden immer noch von Arbeitslosigkeit betroffen? Wie funktioniert das Jobplatzierungs- und Integrationsmodell hier? Bei Jobintegrationsangeboten, wie es sie vom schwedischen Arbeitsamt gibt, da fragen sie zwar nach deiner letzten Arbeitsausbildung. Aber sie fragen nicht nach kreativen Fähigkeiten oder Hobbies. Dabei kommen jetzt – genauso wie in früheren Migrationsbewegungen von Geflüchteten auch schon – Frauen an, die nähen, weben, stricken und häkeln können. Wenn sie nach ihrer Arbeitserfahrung gefragt werden, lautet die Antwort vermutlich: keine. In Ausnahmefällen sagen sie vielleicht auch mal »Sekretärin«. Aber sie antworten nicht: »Hey, ich kann nähen, ich kann wundervolle Sweater stricken, ich kann ganze Kleidungslinien weben.« In unseren Bewerbungsgesprächen achten wir daher genau darauf, herauszufinden, welche Fähigkeiten die Community hat, mit der wir uns vernetzen wollen.
Wie finden Sie die Frauen, die für Sie arbeiten?
Wir machen Workshops in der Stadtbibliothek, viele finden uns direkt vor Ort oder bekommen über Zeitungsannoncen von unserer Arbeit mit. Mit der derzeitigen Welle von Geflüchteten aus der Ukraine teilen viele unser Angebot auch in Facebook-Gruppen. Ein Großteil der geflüchteten Frauen wohnt bei schwedischen Familien, die uns dann kontaktieren.
Gibt es etwas in der schwedischen Kultur, das Ihr Vorhaben schwieriger macht?
Es scheint ein bisschen verwirrend zu sein, dass wir Unternehmertum mit sozialem Engagement verbinden. Es war zum Beispiel schwierig, einen Ort für unsere Workshops zu finden. Das hat damit zu tun, dass viele in Frage kommende Räume staatlich sind. Die Verantwortlichen mochten zwar den Aspekt, dass wir die Migrant*innen mit schwedischen Omas zusammenbringen. Aber als sie hörten, dass wir ein ökonomischer Verein sind und dass unser Ziel am Ende ist, Einkommen zu generieren, war das ein Problem. In Schweden herrscht die Ansicht vor, dass Frauen diese Fertigkeiten einfach besitzen und dass sie gut darin sind. Aber es wird immer als ein Hobby gesehen, als Heimwerken, als typische Frauenarbeit und deshalb nicht als ökonomische Aktivität.
Wie sind Sie über diese Herausforderungen hinweggekommen?
Nach all den Neins, die wir bekommen haben, erfuhren wir irgendwann, dass die Göteborger Stadtbibliothek einen Handwerksraum eingerichtet hat und Projekte sucht, die sich dort niederlassen wollen. Natürlich nutzen wir den Raum nicht, um unsere Produkte dort zu verkaufen. Wir benutzen den Raum für unsere Workshops und, um darin Leute zusammenzubringen mit dem Ziel, dass sie gemeinsam Kultur und Sprache erfahren können. Die Verantwortlichen der Stadt haben nicht sofort nur das Wort »ökonomisch« bei der Registrierung unseres Vereins gelesen, sondern waren etwas offener dafür, dass eine Organisation auf verschiedene Weisen funktionieren und Leute unterstützen kann.
Und warum Produkte aus lokaler Wolle?
Als wir vor zwei Jahren in diesem kalten Land angekommen sind, suchten wir verzweifelt nach lokal produzierten Wollprodukten. Dabei fanden wir heraus, dass die Wolle der vielen Schafe um uns herum größtenteils gar nicht benutzt wird. Das liegt unter anderem daran, dass schwedische Farmen in der Regel sehr klein und über das ganze Land verteilt sind. Außerdem hat es mit den sehr guten, schwedischen Tierwohlrechten zu tun. Ein Schaf hat hierzulande ein besseres Leben, weil es per Gesetz ein Bett aus Heu bekommen muss. Wenn du in Australien dagegen schöne Merino-Wolle kaufen willst, hat das Schaf davor auf Plastik geschlafen. Wenn ein Schaf auf Heu schläft, ist mehr Heu im Fell und es gilt als weniger hochwertig. Außerdem ist es günstiger, Wolle im Ausland, zum Beispiel in China, zu kaufen. Wir erschaffen also Produkte aus einem Material, das sonst weggeschmissen würde.
Hat die Organisation einen feministischen Aspekt?
Laut einem aktuellen Bericht der schwedischen Gleichstellungsbehörde bekommen Frauen weniger Unterstützung bei der Arbeitssuche als Männer. Aus dem Bericht geht außerdem hervor, dass Frauen mit Kindern häufiger zu Hause bleiben. Unserer Auffassung nach sollte das aber kein Hindernis sein. Deshalb ermuntern wir Frauen in unserem Kollektiv dazu, ihre Kinder mitzubringen. Dazu kommt auch noch ein weiterer Aspekt, nämlich dass dieses Handwerk – das wirklich harte Arbeit ist – lediglich als Hobby angesehen wird, als eine Tätigkeit, die von Frauen ausgeübt und allein deshalb nicht als ökonomisch wertvoll angesehen wird. Mit den Jobs, die wir schaffen, wollen wir daher aufzeigen, dass Handwerk harte und kreative Arbeit zugleich bedeutet. Und wir möchten sichtbar machen, dass so viele Frauen diese herausragenden Fähigkeiten besitzen. Unser Ziel ist es, dieses Bewusstsein zurück in die Mainstream-Modeindustrie zu bringen und für eine Aufwertung dieser Fähigkeiten zu sorgen. Um die Frage zu beantworten: Ja, unser Projekt ist feministisch. Auf sehr vielen Ebenen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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