»Vom eigenen Parlament angegriffen«

Trotz monatelanger Proteste von Gewerkschaften: Selenskyj unterzeichnet Gesetz zum radikalen Abbau von Arbeitnehmerrechten in der Ukraine

Binnenflüchtlinge in Notunterkünften: Das Bild zeigt Geflohene in einem Internat in der Westukraine. Auch in Einrichtungen von Gewerkschaften werden viele Menschen untergebracht.
Binnenflüchtlinge in Notunterkünften: Das Bild zeigt Geflohene in einem Internat in der Westukraine. Auch in Einrichtungen von Gewerkschaften werden viele Menschen untergebracht.

Mitten im Krieg hat das ukrainische Parlament beschlossen, den Arbeitnehmerschutz drastisch zu beschneiden. So sollen sogenannte Null-Stunden-Verträge künftig erlaubt sein. Ein zweites, besonders umstrittenes Gesetz sieht vor, dass in kleinen und mittleren Unternehmen Arbeitnehmerrechte faktisch nicht mehr gelten. Der Gesetzentwurf stammt aus dem Jahr 2021 und löste schon damals heftige Proteste von Gewerkschaften auf nationaler und internationaler Ebene aus. Ausgerechnet jetzt, während des Krieges, greife das Parlament das Vorhaben wieder auf, kritisierte der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) nach Verabschiedung des Gesetzes Ende Juli: »Während ukrainische Arbeiter*innen das Land verteidigen und sich um Verletzte, Kranke und Vertriebene kümmern, werden sie von ihrem eigenen Parlament angegriffen. Das ist grotesk«, urteilt die IGB-Generalsekretärin Sharan Burrow.

Noch im Juni hatten sich der IGB und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) in einem Brief an den Parlamentspräsidenten dafür eingesetzt, das Gesetz abzulehnen – vergeblich. Dann appellierten sie an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sein Veto einzulegen und so zu verhindern, dass die Gesetze in Kraft treten – wieder vergeblich. Am 17. August habe Selenskyj das „skandalöse Gesetz» unterzeichnet, schreibt der Gewerkschaftsbund der Ukraine (FPU) in einer Mitteilung. 

Mitten im Krieg hat ein Parlamentsausschuss auch zwei Gesetzentwürfe zum Gewerkschaftseigentum wieder aufgegriffen und dem Parlament zur Beratung vorgelegt. Demnach soll es möglich sein, Eigentum des Gewerkschaftsbunds zu beschlagnahmen, so der FPU. Fast alle diese Gebäude, zu denen Schulungszentren und Hostels gehören, würden derzeit genutzt, um Binnenflüchtlinge unterzubringen. Seit Kriegsbeginn seien mehr als 300 000 Menschen dort zeitweise untergekommen.

Dass auch diese Pläne, die ebenfalls von 2021 stammen, während des Kriegsrechts wieder vorangetrieben werden, sei ein Skandal, heißt es in einem Brief des Europäischen und des Internationalen Gewerkschaftsbunds an die ukrainische Regierung und den Parlamentspräsidenten. Die Drohung, Eigentum von Gewerkschaften zu beschlagnahmen, solle sie davon abhalten, sich den drakonischen Gesetzen zu widersetzen, vermutet der IGB. Oligarchen würde ermöglicht, die Gebäude für wenig Geld zu kaufen.

Arbeitsrechte werden zur »leeren Hülle«

Das jetzt verabschiedete Gesetz Nummer 5371 gilt für Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten. In diesen Firmen arbeitet die Mehrheit der Erwerbstätigen. Für sie sollen gesetzliche Vorschriften nicht mehr zwingend gelten. Vielmehr können die Betriebe mit Angestellten individuelle Arbeitsverträge abschließen, die von geltenden Normen abweichen. Lediglich einzelne gesetzliche Basisvorschriften wie der Mindestlohn sollen beachtet werden müssen.

Da Beschäftigte gegenüber Unternehmen in einer schwächeren Position sind, bedeute dies in der Praxis sehr wahrscheinlich, dass die Arbeitsbedingungen »nach dem Ermessen des Arbeitgebers« festgelegt werden, schrieben ILO-Experten bereits im Juni 2021 über den Gesetzentwurf. Nicht verhandelbare Rechte würden zwischen zwei ungleichen Parteien verhandelbar, so werde der rechtliche Schutz von Beschäftigten zu einer »leeren Hülle«, sagen die ILO-Fachleute, die damals auf Bitte des ukrainischen Parlamentsausschusses für Europäische Integration die Pläne analysiert hatten.

Der ukrainische Journalist Serhiy Guz und Thomas Rowley, Redakteur bei der internationalen Medienplattform OpenDemocracy, recherchieren schon länger zur Deregulierung in der Ukraine und haben auf der Internetplattform ausführlich darüber berichtet. De facto gehe das Gesetz davon aus, »dass buchstäblich alles in einen Arbeitsvertrag aufgenommen werden kann, ohne Bezug auf das ukrainische Arbeitsrecht«, wird der Rechtsanwalt George Sandul von der ukrainischen NGO Labor Initiatives auf OpenDemocracy zitiert. Als Beispiele nannte er zusätzliche Kündigungsgründe, Haftung und längere Arbeitszeiten.

Das Gesetz erlaube es den Firmen auch, Tarifverträge zu ignorieren, kritisiert der EGB. Das heißt: Gewerkschaften würden in Betrieben und Branchen entmachtet, ihre Tarifverträge entwertet. Sie sollen auch bei Kündigungen keine Einspruchsmöglichkeiten mehr haben. 

All dies gibt kleinen und mittleren Unternehmen mehr Macht gegenüber der Belegschaft. Sollte das Gesetz in Kraft treten, würden größere Firmen in kleinere Einheiten zerschlagen, prophezeit denn auch der EGB.

Die Regierungspartei „Diener des Volkes» argumentiert hingegen, dass die Überregulierung der Beschäftigung den Prinzipien der Selbstregulierung des Markts widerspreche, schreiben Guz und Rowley auf OpenDemocracy. Sie zitieren etwa den Abgeordneten und Vorsitzenden des Finanzausschusses Danylo Hetmantsev: »Ein Beschäftigter sollte die Beziehungen zu einem Arbeitgeber selbst regeln können, ohne den Staat. Das ist es, was in einem Staat passiert, wenn er frei ist, europäisch und marktorientiert.« Aus Sicht des EGB widerspricht die Reform dagegen EU-Prinzipien.

Der Gesetzentwurf wurde im vergangenen Jahr nach Protesten von Gewerkschaften nicht weiter verfolgt. Nun verabschiedete das Parlament die Reform mit dem Zusatz, dass sie nur während des Kriegsrechts gelten soll, berichtet der ukrainische Gewerkschaftsbund FPU. Allerdings gibt es Zweifel, ob es dabei bleibt. Niemand werde dies wieder komplett rückgängig machen können, sagte etwa Mykhailo Volynets, Abgeordneter und Vorsitzender des zweiten ukrainischen Gewerkschaftsbunds KVPU, laut OpenDemocracy.

Das zweite verabschiedete Gesetz, das Selenskyj ebenfalls passieren ließ, erlaubt es allen Unternehmen, bis zu zehn Prozent der Belegschaft mit Null-Stunden-Verträgen einzustellen, die Arbeit auf Abruf ermöglichen. Die Firmen müssen eine Mindestarbeitszeit von lediglich 32 Stunden sicherstellen – pro Monat. Die Nachteile für Beschäftigte von solchen »zero-hours contracts«, die es in Großbritannien schon lange gibt und dort schon lange kritisiert werden, liegen auf der Hand: Freizeit und Arbeitszeiten sind nicht planbar, die Bezahlung unsicher und schwankend. Einige Abgeordnete in der Ukraine strebten schon seit Jahren an, solche Gelegenheitsjobs zu ermöglichen, berichtet der Gewerkschaftsbund FPU.

Die Regierung argumentiert, die Null-Stunden-Verträge würden die Situation von Freiberuflern verbessern. Kritiker fürchten hingegen, dass bislang feste Jobs in prekäre umgewandelt werden, etwa im Zuge einer Sparpolitik.

EU-Betrittswunsch als Druckmittel?

Die Abgeordneten nutzten den Angriff Russlands als Gelegenheit und versuchten, drastische Änderungen beim Arbeitsrecht durchzusetzen, bilanziert der Anwalt Sandul von Labor Initiatives auf OpenDemocracy. Denn im Krieg ist Widerstand dagegen schwer: Arbeiter kämpften gegen die russische Invasion, Gewerkschaften konzentrierten sich auf humanitäre Hilfe, so der Internationale Gewerkschaftsbund. In dieser Situation sei es schier unmöglich, gegen die »Zerstörung von Rechten und den Diebstahl ihres Eigentums« zu mobilisieren.

Wegen des Krieges und des Kriegsrechts seien Proteste und Streiks nicht möglich, schrieb der FPU nach der Unterzeichnung der Gesetze durch Selenskyj. Darum werde der Gewerkschaftsbund nun das besonders kritisierte Gesetz zum Abbau des Arbeitnehmerschutzes in kleinen und mittleren Betrieben vor dem Verfassungsgericht anfechten und internationale Organisationen wie die ILO einschalten. 

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