- Berlin
- Datenschutz
Die Polizei darf nicht wissen, wohin Herr Tittel fährt
Landgericht verurteilt automatische Kennzeichenerfassung auf der Autobahn
Marko Tittel wohnt in der Uckermark und fährt aus seinem Heimatort regelmäßig nach Berlin und zurück. Schätzungsweise 30 bis 40 Mal nahm er dabei allein im Jahr 2018 die Autobahn A11. Im Jahr darauf erfuhr er, dass die brandenburgische Polizei auf dieser Autobahn an zwei Stellen automatisch die Kennzeichen aller passierenden Fahrzeuge erfasst und speichert. Als Mitglied der Piratenpartei für den Datenschutz sensibilisiert, ließ sich Tittel das nicht bieten und legte Klage ein. Das Amtsgericht Frankfurt (Oder) hat ihn abgewiesen. Doch er ließ nicht locker und zog bis vor das Landesverfassungsgericht.
Nun hat ihm das Landgericht Frankfurt (Oder) mit Beschluss vom 22. Juli 2022 bestätigt, dass die immer wieder erfolgte Erfassung und Speicherung des Kennzeichens und eines Bildes seines Autos im Zeitraum von 2017 bis Ende Juni 2021 rechtswidrig waren. Das teilte die Piratenpartei am Sonntag mit und fügte eine Kopie des Gerichtsbeschlusses an. Die Kosten des Verfahrens hat das Amtsgericht demnach der Staatskasse auferlegt.
Brandenburgs Polizei hat die umstrittene und auch von der Landesdatenschutzbeauftragten Dagmar Hartge gerügte Kennzeichenerfassung im Aufzeichnungsmodus mittlerweile eingestellt und benutzt das Kennzeichenerfassungssystem Kesy nur noch im Fahndungsmodus. Dabei werden Kennzeichen gescannt und abgeglichen, um die Bewegungen konkreter Personen nachzuvollziehen und Straftäter zu fassen.
Das Landgericht erklärte zwar ausdrücklich nur für rechtswidrig, dass Brandenburgs Polizei erfasste, wann und in welcher Fahrtrichtung Marko Tittel auf der A11 unterwegs war. Gegen die anlasslose Speicherung der Daten aller anderen unbescholtenen Autofahrer zu klagen, fehlte ihm demnach die Berechtigung. Trotzdem sieht und begrüßt Tittel den Beschluss als Grundsatzentscheidung gegen die Speicherung von Daten über Autofahrten. »Eine wahllose Vorratsspeicherung jeder Fahrt auf der Autobahn schafft gläsere Autofahrer*innen und setzt sie einem ständigen Überwachungsdruck aus, aber auch dem Risiko eines falschen Verdachts oder missbräuchlicher Nachverfolgung der persönlichen Lebensführung durch Unbefugte«, sagt er. »Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem jede Bewegung erfasst und gegen mich verwendet werden kann.«
Der Piraten-Europaabgeordnete Patrick Beyer ergänzt: »Der massenhafte Abgleich von Kfz-Kennzeichen führt selten und allenfalls zufällig einmal zur Aufklärung von Straftaten.« Die Kennzeichenerfassung verschwende die wertvolle Arbeitszeit von Polizisten. Diese müssten die zu über 90 Prozent falschen Treffermeldungen der fehleranfälligen Technik aussortieren. So werden nach Angaben der Piraten beispielsweise in Bayern an 15 Stellen pro Monat 8,5 Millionen Kennzeichen erfasst. 98 Prozent der Treffermeldungen seien dort falsch, weil der Scanner etwa die Buchstaben I und O nicht von den Ziffern 1 und 0 unterscheiden könne.
»Die permanente, massenhafte und automatisierte Kontrolle der gesamten Bevölkerung droht wie ein Krebsgeschwür immer weitere Kreise zu ziehen«, meint Patrick Beyer. Heute diene sie zur Fahndung und Beobachtung, morgen für Knöllchen gegen Temposünder und übermorgen werde eine biometrische Gesichtserkennung an jeder Straßenecke eingeführt, warnt er. »Unter ständiger Überwachung können wir uns nicht frei verhalten.«
Auf Brandenburgs Autobahnen werden seit dem Jahr 2010 wegen laufender Ermittlungsverfahren und auf Anordnung der Staatsanwaltschaften Fahrzeugkennzeichen erfasst und gespeichert. Als die Polizei 2019 nach dem verschwundenen Mädchen Rebecca aus Berlin suchte, wurde das Kennzeichenerfassungssystem bekannt. Die Datenschutzbeauftragte Dagmar Hartge beanstandete Mängel. Die gespeicherten Daten wurden zunächst nur vom Server gelöscht, waren dann jedoch noch auf Magnetbändern verfügbar, was die Datenschützerin nach Kontrollen monierte.
Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) veranlasste Änderungen, will auf die Kennzeichenerfassung aber nicht verzichten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.