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Impfstoff dringend gesucht

Berliner Schwulenberatung beklagt mangelndes Engagement bei der Bekämpfung von Affenpocken

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 6 Min.
Auf dem Berliner CSD im Juli waren auch Affenpocken-Impfungen Thema.
Auf dem Berliner CSD im Juli waren auch Affenpocken-Impfungen Thema.

»In der Community gibt es mittlerweile viele Stimmen, die sich fragen, ob dem Land Berlin als Regenbogenhauptstadt die Gesundheit schwuler Männer egal sein könnte«, sagt Stephan Jäkel, Abteilungsleiter für den Bereich HIV und sexuell übertragbare Erkrankungen bei der Schwulenberatung Berlin. Die Hauptstadt ist seit Wochen bundesweiter Hotspot von Affenpockeninfektionen, auch MPX abgekürzt, der englischen Entsprechung Monkeypox folgend. Von bundesweit aktuell 2887 MPX-Fällen entfallen allein 1436 auf Berlin. Doch ausgerechnet hier fehlt es an Impfstoff, nachdem bereits der Impfstart Mitte Juli verstolpert worden ist. Der Frust in der schwulen Community, die bisher von der Viruserkrankung am meisten betroffen ist, ist dementsprechend groß.

»Wir können die Frustration der Menschen, die sich vergeblich um einen Impftermin bemühen, gut verstehen«, sagt Laura Hofmann, Sprecherin von Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne), zu »nd«. Deshalb brauche man vom Bundesgesundheitsministerium »möglichst bald« neue Impfstoffdosen. Zuletzt hatte man Ende Juli an das Haus von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) appelliert. »Leider wurde uns vom Bundesgesundheitsministerium noch kein Datum für die Lieferung der zweiten Charge genannt«, so Hofmann zu »nd«. Über die Medien kolportiere das Haus von Lauterbach nun den September. Fest steht: Berlin soll mit der zweiten Tranche, die deutschlandweit rund 200 000 Impfdosen umfassen soll, »voraussichtlich 31,8 Prozent« erhalten, also 63 600 Impfdosen, so Hofmann. Die erste Tranche umfasste gerade mal 9500 Dosen – und das für die Stadt mit der mit Abstand größten queeren Community und einem ausgeprägten schwulen Sextourismus.

Doch es sind nicht nur die Impfdosen. Bei vielen Beteiligten aus der Community ist der Eindruck entstanden, dass bei Maßnahmen gegen MPX teilweise nicht so schnell und pragmatisch gehandelt wurde wie während der Covid-19-Pandemie, als die gesamte Bevölkerung betroffen war. »Wenn der Berliner Senat nicht möchte, dass sich dieser Eindruck verfestigt, ist es erforderlich, dass sich die verantwortlichen Stellen proaktiv und eng mit allen wichtigen Akteuren unter gleichberechtigter Beteiligung der Community-Organisationen zusammensetzen und alle mit ihren vielfältigen Expertisen einbinden und gemeinsam die weitere Aufklärungs- und Impfkampagne diskutieren, planen und transparent kommunizieren«, fordert Stephan Jäkel.

Die Schwulenberatung habe mit ihrem Vor-Ort-Projekt man*check mit Webseite, Plakaten und Flyern dazu beigetragen, dass die Community informiert wird. »Um die betroffenen Personengruppen zu erreichen, darf und muss ich sie auch gezielt adressieren. Das ist noch keine Stigmatisierung«, betont Jäkel. Vielmehr sei die Frage: »Wie spreche ich es an? Lebensstilakzeptierend, wertschätzend und verbunden mit Angeboten wie einem schnellen Impfangebot und positiven alltagstauglichen Botschaften? Oder als Risikogruppe und potenzielle Gefahr für die Allgemeinbevölkerung?« Und nur weil im Moment fast nur Männer betroffen sind, die mit Männern Sex haben, heißt das nicht, dass das Virus nicht auch andere Personengruppen trifft. Zwar waren die Infektionszahlen in den vergangenen Tagen rückläufig. Für Jäkel ist es aber noch zu früh, um »daraus Rückschlüsse zu ziehen«.

In der Gesundheitsverwaltung geht man davon aus, dass der Rückgang der Zahlen »noch nicht auf die Impfungen zurückzuführen ist«, so Sprecherin Hofmann. Vielmehr vermutet man »eine Verhaltensänderung der Menschen als Folge von öffentlicher Aufmerksamkeit für das Thema«. Bei der Schwulenberatung spricht man in dem Zusammenhang vom sogenannten Präventionsparadoxon. Vielleicht hätten die Aufklärungskampagnen und die Berichterstattung der vergangenen Wochen schon für eine Sensibilisierung der Community gesorgt. Das – verbunden mit einer hohen Selbstbeobachtung auf mögliche Symptome, Verhaltensanpassungen und ersten Impfungen – könnte zu einem vorübergehenden Rückgang der Neuinfektionszahlen geführt haben. »Daran müssen wir weiter arbeiten«, sagt Jäkel. Trotzdem: »Jetzt nachzulassen bei weiteren Impfbemühungen, wäre Ausdruck einer falschen Sicherheit.«

Die Welle der Infektionen hat sich in Berlin auch in den stationären Aufnahmen im Krankenhaus niedergeschlagen. »Wir haben jetzt mittlerweile gut 40 Patienten stationär behandelt«, sagt Pascal Migaud, Facharzt für Innere Medizin an der Klinik für Infektiologie des St. Joseph Krankenhauses in Tempelhof – die infektiologische Instanz im Bereich HIV und sexuell übertragbare Krankheiten in Berlin schlechthin. Grund für die Aufnahmen »sind in den meisten Fällen starke Schmerzen«, sagt Migaud zu »nd«.

In seltenen Fällen kann es auch zu bakteriellen Superinfektionen an den Pusteln kommen, die mit Antibiotika behandelt werden müssen. In noch viel selteneren Fällen muss das antivirale Medikament Tecovirimat verordnet werden, das aber in Europa kaum verfügbar ist. Doch bei den meisten Patienten »klingen die Symptome auch von allein wieder ab«. Migaud spricht von etwa zehn Prozent der MPX-Infizierten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen. Zu dem Ergebnis kommt jedenfalls die derzeit größte MPX-Studie mit über 500 Teilnehmenden, an der seine Abteilung mit Kollegen aus 16 anderen Ländern mitgewirkt hat. Dabei sei auch herausgekommen, dass viele Patienten lediglich eine einzelne kleine Hautverletzung hatten.

Migaud erinnert sich noch an seinen ersten MPX-Patienten Ende Mai in der Notaufnahme des St. Joseph Krankenhauses. An diesem Tag war gerade eine Ärztedelegation eines Partner-Krankenhauses aus Kikwit in der Demokratischen Republik Kongo zu Gast. Dort ist die Erkrankung bereits in den 1970er Jahren erstmals auftaucht. »Der Kollege aus dem Kongo schaute sich das an und sagte: ›Ja klar, das ist das‹«, erzählt Migaud. In der Diagnostik ähneln die Affenpocken schon mal Windpocken oder Syphilis.

Bekannt ist: Es braucht engen Körperkontakt, um sich anzustecken. »Das ist nicht wie Corona, man sitzt in einem Raum und spricht oder singt und dann bekommen es fünf Leute«, sagt Migaud. Doch es bleiben viele Fragezeichen. »Wir wissen zum Beispiel auch nicht, ob das Virus auf intakte Haut übertragen wird oder kleine Hautbarrierestörungen braucht, damit eine Übertragung gelingen kann.«

Personen, die körperlichen Kontakt mit jemandem hatten, der infiziert oder wahrscheinlich infiziert ist, rät Migaud dringend, sich impfen zu lassen, wie überhaupt allen Männern, die Sex mit Männern haben, zumal mit wechselnden Partnern, und die über 18 Jahre alt sind. Wichtig: Eine HIV-Erkrankung ist kein Ausschlusskriterium für eine Impfung.

»Der Bedarf an Impfung aus der Community ist noch lange, lange nicht gedeckt«, betont Stephan Jäkel von der Schwulenberatung. Jetzt gehe es insbesondere um eines: »Wie kommen das Land Berlin und der Bund an weiteren Impfstoff? Wie können wir die Botschaften weiter in die Communitys tragen? Und wie kann die Expertise dieser Communitys dazu auch gehört und strukturell verankert werden?«

Die Weltgesundheitsorganisation hat bei MPX inzwischen die internationale Notlage ausgerufen. Jäkel berichtet in diesem Zusammenhang auch über den Austausch mit internationalen Partnerorganisationen wie »Proud Libanon« . »Da ist die Situation dramatisch: Sie bekommen zwar jetzt Tests auf MPX zur Verfügung gestellt und die Aufgabe, die Community zu testen, aber eine Impfung ist für den Libanon selbst nicht bezahlbar und auch die Testung soll rein ehrenamtlich erfolgen. Wir unterstützen durch frühzeitiges Teilen unserer Erfahrungen und Informationsmaterialien, die dann vor Ort angepasst werden. Wir sehen aber die Notwendigkeit, dass wir nicht nur Impfstoff für uns in Deutschland oder in der EU bekommen, sondern die Communitys international, die kaum Gehör finden und keine Lobby haben, genauso mit Impfstoffen versorgt werden.«

Für Stephan Jäkel ist es nur scheinbar ein Widerspruch, »hier viel Impfstoff zu fordern und gleichzeitig einen internationalen Ansatz zu verfolgen«. Länder mit einem sehr schlechten Gesundheitssystem dürften nicht wieder wie bei Corona außen vor gelassen werden. »Letztendlich kommt das allen zugute. Denn MPX ist ein globales Thema geworden und kann auch nur global besiegt werden.«

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