Es ist Krieg, und keiner sieht hin

Für eine türkische Invasion in Nordsyrien würde auch der Westen Verantwortung tragen, meint Christopher Wimmer

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf einmal ist der Tod ganz nahe. Kürzlich kamen bei einem türkischen Drohnenangriff auf eine belebte Straße in der nordsyrischen Großstadt Qamislo drei Zivilisten ums Leben – davon zwei Minderjährige. Ich kenne die Straße mit ihren Autowerkstätten gut, da ich sie regelmäßig passiere. Mein derzeitiger Wohnort ist nicht allzu weit entfernt. Der Angriff galt dem Pkw von Mazlum Seededîn Esed, einem führenden Mitglied der »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF), der Selbstverteidigungskräfte der autonomen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Die Zivilisten, die sein Auto reparieren sollten, hatten einfach nur Pech. Wenige Tage später wurde bei einem weiteren Angriff in Qamislo Youssef Mahmoud Rabbani von der Partei PJAK getötet, die für kurdische Autonomie in Iran kämpft. Rabbani war in Syrien zu Besuch.

Diese dauerhafte Bedrohung gehört in Rojava – wie das Autonomiegebiet an der Grenze zur Türkei auch genannt wird – zum Alltag der Menschen. Die Drohen machen keinen Unterschied zwischen Zivilist*innen oder militärischen Personal – alle sind in Gefahr. Während Militärs oder Politiker*innen gezielt ermordet werden, kommt es auch immer wieder zu zivilen Opfern. Für die gesamte Bevölkerung bedeutet dies eine enorm hohe psychische Belastung. Es gibt keine Möglichkeit, sich zu schützen oder in Sicherheit zu bringen. Drohnenangriffe geschehen unangekündigt und willkürlich.

Weitgehend unbeachtet von der (westlichen) Öffentlichkeit hat die Türkei in den vergangenen Tagen ihre Drohnen- und Artillerieangriffe auf Nord- und Ostsyrien massiv ausgeweitet. Bei mehreren Dutzend Attacken in der ostsyischen Region Jazira sowie bei weiteren im Westen um Ain Issa wurden zehn Menschen getötet und 17 weitere verletzt – darunter zwölf Zivilist*innen und fünf Kinder. Bereits jetzt ist der August der tödlichste Monat des Jahres 2022 mit den meisten Drohnenangriffen. Laut der unabhängigen Medienorganisation Rojava Information Center (RIC) mit Sitz in Nordostsyrien kamen in diesem Jahr bei insgesamt 67 Drohnenangriffen 41 Menschen ums Leben, 77 wurden verwundet. Die Zahlen dürften höher sein, da das RIC nur bestätigte Fälle veröffentlicht.

Seit Monaten droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit einer Militärintervention. Die Türkei ist bereits dreimal völkerrechtswidrig in Nordostsyrien einmarschiert. Die kurdisch geprägte Selbstverwaltung stelle eine »terroristischen Bedrohung« für die Türkei dar, die daher eine 30 Kilometer tiefe Sicherheitszone innerhalb Syrien errichten will. Dies hatte Erdogan zuletzt vor türkischen Diplomaten erneut bekräftigt. Für die Selbstverwaltung wäre dies das Ende. Für die lokale Bevölkerung würde es Vertreibung bedeuten. Viele befürchten zudem eine Rückkehr des Islamischen Staats (IS).

Bei zwei Gipfeltreffen in Teheran und Sotschi in den letzten Wochen hatte Erdoğan vor allem bei Russland um grünes Licht für eine Invasion gebeten. Russland unterstützt in Syrien den Machthaber Bashar al-Assad und kontrolliert weitgehend den Luftraum über Nordostsyrien. Bislang stellen sich jedoch sowohl Russland als auch die USA gegen eine militärische Invasion. Daher, so scheint es, intensiviert die Türkei ihren Drohnen- und Bombenkrieg. »Ziel der Eskalation« sei es, so heißt es in einer Meldung der SDF, »Schrecken, Panik und Instabilität unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten.« Dass sich ausgerechnet Erdogan am Donnerstag mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj treffen wollte, um über eine Friedenslösung am Dnepr zu reden, kann deshalb nur als schlechter Witz bezeichnet werden.

Die autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat sich unterdessen an die USA und an Russland gewandt. In einer Stellungnahme wird auf die letzten Gipfeltreffen in Teheran und Sotschi verwiesen. Dass dabei eine türkische Invasion abgelehnt wurde, sei zwar positiv, aber die dauerhaften Angriffe auf Nord- und Ostsyrien ließen Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Aussagen aufkommen. Russland und die USA »müssen eine eindeutige Haltung zeigen«. Angesichts der zahlreichen Angriffe hatten die SDF am 12. August erklärt, ihre Zusammenarbeit mit der internationalen Koalition im Kampf gegen den IS einzustellen und sich auf Selbstverteidigung zu konzentrieren.

Der Westen und insbesondere die vermeintlich »feministische Außenpolitik« der Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) haben noch die Chance, zu diesem Krieg eine klare Position zu beziehen. Sollte es in der Region zu einem Erstarken des IS kommen oder die Türkei einmarschieren, wäre dies für die lokale Bevölkerung schlichtweg eine Katastrophe – für die der Westen Verantwortung tragen würde.

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