»Unsere stärkste Waffe ist unser Wille«

Zivilist*innen in Rojava unter verstärktem Beschuss durch türkische Artillerie

  • Linda Peikert
  • Lesedauer: 3 Min.
Eine Demonstrantin gegen die türkischen Angriffe in der nordkurdischen Stadt Kobanê.
Eine Demonstrantin gegen die türkischen Angriffe in der nordkurdischen Stadt Kobanê.

»Als das Geräusch der Bomben zu hören war, ist danach direkt das Geschrei von Kindern losgegangen«, sagt Hêvîn Miho Ismaîl. »Es war grausam, das zu hören. Alle sind in ihren Häusern geblieben, niemand wusste, wohin«, fährt die Bewohnerin von Kobanê im Gespräch mit »nd« fort.
Am Dienstagvormittag wurde das Zentrum der nordsyrischen Stadt Kobanê mit türkischen Artilleriegranaten bombardiert. Laut aktuellen Informationen starb dabei ein zwölfjähriges Kind. Weitere Personen wurden verletzt, darunter Jugendliche und ein zweijähriges Kleinkind.

2015 wurde Kobanê von den kurdischen Verteidigungseinheiten YPG und YPJ an der Seite der internationalen Anti-IS-Koalition von dem sogenannten Islamischen Staat befreit. Die Bilder mutiger Kämpferinnen mit geflochtenem Haar gingen um die Welt. »Es ist erschreckend: Kobanês Töchter und Söhne haben unsere Stadt vom IS befreit und heute werden unsere kleinen Kinder von der Türkei angegriffen und getötet«, sagt Ismaîl. Sie leitet die Frauenorganisierung in Kobanê und macht sich Sorgen. Doch für sie ist klar: »Wir werden Kobanê nicht verlassen. Wir gehen auf die Straßen. Wir wollen, dass alle Menschen auf der Welt unsere Stimmen hören, damit sie wissen, was hier passiert.« Was sie besonders verärgere: Russische Truppen, die vorgeblich zum Schutz der Zivilbevölkerung in der Region stationiert sind und die Hoheit über den Luftraum haben, lassen die türkischen Bombardierungen geschehen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan möchte von der türkischen Grenze aus eine 30 Kilometer breite, sogenannte Sicherheitszone auf syrischem Staatsgebiet errichten. »Was uns Sorgen bereitet, ist, wie die Türkei hier mit Drohnen und Luftwaffe auf die Bevölkerung losgeht«, sagt Leyla Tolhildan. Sie ist Teil der Frauenverteidigungseinheit YPJ und in Kobanê stationiert. »Aber wir lassen uns nicht von den Drohungen der Türkei einschüchtern.« Ihr sei bewusst, dass die Verteidigungseinheiten von Nord- und Ostsyrien auf militärischer Ebene nicht mit dem Nato-Staat Türkei mithalten könnten. »Dafür haben wir aber etwas, das der Türkei fehlt: Unsere stärkste Waffe ist unser Wille«, sagt die kurdische Kämpferin. Um das Leid, das aus Erdoğans blutigem Kampf gegen die demokratische Selbstverwaltungsstruktur in Nord- und Ostsyrien resultieren wird, zu verringern, wünscht sich Tolhildan internationale Unterstützung: »Wir fordern die Schließung des Luftraums, das würde uns hier wirklich weiterhelfen.« Doch die internationale Anteilnahme bleibt vorerst verhalten. »Diejenigen, die angesichts der aktuellen Angriffe schweigen, unterstützen die türkischen Besatzungsabsichten. Mit einem Schweigen werden die Besatzungsangriffe legitimiert«, findet Tolhildan.

Die türkischen Angriffe zielen nicht nicht nur auf Kobanê, auch zahlreiche andere Städte und Dörfer wurden in den vergangenen Wochen vermehrt mit Artillerie und Drohnen beschossen. Am Dienstagabend wurde in einem Dorf in der Nähe von Amudê ein Posten der syrisch-demokratischen Kräfte getroffen. »Um 19.30 Uhr haben wir eine laute Explosion gehört«, erzählt Abdullah Ibrahim Ibrahim. Der 25-Jährige wohnt mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen sechs Monate alten Zwillingen ganz in der Nähe des bombardierten Stützpunkts. »Wir Dorfbewohner sind hingegangen, um zu helfen. Kurze Zeit später sind wir ein zweites Mal angegriffen worden«, erzählt der junge Mann. Insgesamt starben fünf Personen, mehrere wurden verletzt. »Ich bin sehr traurig über die Toten und Verletzten, aber gleichzeitig bin ich auch sehr wütend auf die internationale Koalition und auf Russland, dass sie es zulassen, dass die Türkei uns täglich mit Artillerie und Drohnen beschießt«, sagt Ibrahim dem »nd«. Seine Heimat will er trotz der türkischen Angriffe, trotz der lebensbedrohlichen Situation, nicht verlassen. »Kein Land will Flüchtlinge aufnehmen. Und ehrlich gesagt wollen wir das Land, in dem wir geboren sind, nicht den Türken und den Islamisten überlassen«, sagt er.

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