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Flucht in ein neues Leben

Unter den Taliban gerät Sporttreiben in Afghanistan zur Gefahr für Leib und Leben. Von Erfolgen erzählen Geflüchtete und ihre Helfer

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 7 Min.
Freude in Melbourne: Fatima (2.v.l.) ist Torhüterin und Kapitänin der afghanischen Fußballerinnen.
Freude in Melbourne: Fatima (2.v.l.) ist Torhüterin und Kapitänin der afghanischen Fußballerinnen.

Der Einmarsch der Taliban in die Hauptstadt Kabul vor gut einem Jahr hat auch die Sportwelt empfindlich getroffen. Zwar wird gelegentlich von Fußballpartien erzählt, die auch unter der Herrschaft der Gotteskrieger stattfinden. Der Spielraum dafür ist aber eng begrenzt. Das erfuhr im Juli eine Mannschaft aus Pakistan, die im afghanischen Kandahar einige Freundschaftsspiele austragen wollte. Mitten im dritten Spiel dieser Serie stürmten Sicherheitsleute der Taliban den Fußballplatz, nahmen die Spieler fest und bestraften einige von ihnen, indem sie ihnen die Köpfe kahl rasierten. Laut einem Bericht der BBC erklärte ein Talibansprecher, die Spieler hätten die islamische Kleiderordnung verletzt. Diese verbiete, nackte Körperteile zu zeigen. Unter das Verbot fallen also auch Fußballerwaden, wenn sie nicht züchtig bedeckt sind.

Was genau an Sport noch möglich bleibt, ist unklar. Die von Exiliraner*innen betriebene Internetseite Iran Wire berichtete beispielsweise von illegalen Sportstätten von Kampfsportlerinnen in Afghanistan. Eine Sportlerin erzählte dabei, dass die Athletinnen, die schon länger den Sport ausübten, auch unter den neuen Bedingungen Mittel und Wege fänden, das weiterhin zu tun. Junge Frauen und Mädchen neu für den Sport zu begeistern, sei aber so gut wie unmöglich.

Das bestätigt Zahra Hosseini gegenüber »nd«. Die 30-jährige Archäologin rief im Jahr 2014 das erste gemeinsame Radrennen für Frauen und Männer in der Provinz Bamiyan ins Leben. »Das Rennen ging vom Ort der zerstörten Buddha-Statuen bis ins Stadtzentrum von Bamiyan. Viele Einwohner kamen an die Strecke, denn sie wollten die Mädchen Fahrradfahren sehen. Es war ein toller Erfolg«, erzählt Hosseini.

Die Mädchen, die damals als Radsportpionierinnen den Slogan »Right to Ride« (»Ein Recht auf Fahrradfahren«) prägten, sind inzwischen in alle Winde verstreut. Hosseini selbst ist in Schweden gelandet. Vier Tage vor dem Einmarsch der Taliban im August 2021 erhielt sie die Zusage für ein Stipendium in Stockholm. Raus aus dem Land kam sie allerdings erst Wochen später. Weil zum Flughafen kein Durchkommen war, flüchtete sie mit einer Gruppe von Menschenrechtsaktivist*innen über den Landweg nach Pakistan und bewerkstelligte von dort aus die Ausreise nach Skandinavien. Ein Mädchen, dem sie einst in Bamiyan das Fahrradfahren beibrachte, studiert mittlerweile in Japan. Hosseinis engste Freundin ist mit ihrem Bruder und Vater, die ebenfalls Radsportenthusiasten sind, in Deutschland.

»Vor zwei Wochen gelang es Hilfsorganisationen, einige Mädchen mit Unterstützung der italienischen Botschaft nach Italien zu bringen. Ich weiß aber auch von einigen, die aus Bamiyan nach Kabul gezogen sind, dass sie dort in einer sehr schlechten Situation sind. Sie haben Angst, sie möchten nur noch raus«, erzählt Hosseini. An Radfahren im Kabul der Taliban ist nicht zu denken. Auch zu Zeiten der Vorgängerregierung war es nicht einfach. Hosseini musste in Bamiyan erst die lokalen Mullahs überzeugen. »Sie wollten, dass wir Mädchen an einem abgelegenen Ort trainieren. Ich habe habe ihnen gesagt, dass wir mitten in der Stadt Fahrrad fahren und uns nicht von Männern und Jungs separieren wollen«, erzählt sie strahlend. Damals gaben die Mullahs nach. Jetzt aber herrscht die strenge Auslegung des islamischen Rechts der Taliban.

Deswegen haben Hunderte Spitzensportler das Land schon verlassen. Exakte Zahlen darüber gibt es nicht. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) erklärte, dass es »mehr als 300 Visa für Mitglieder der olympischen Sportgemeinschaft Afghanistans« organisiert habe. Wie viele Athlet*innen, Funktionäre und Familienangehörige darunter sind, beantwortet das IOC auf Nachfrage von »nd« nicht. Der Radsportweltverband UCI teilte mit, dass er bei der Evakuierung von 165 Radsportlern geholfen habe. Das löste bittere Twitter-Kommentare aus. »Welche Evakuierung? Welche Flüchtlinge?«, fragte sarkastisch der Videokünstler und Radsportler Morteza Amir. Nur eine Handvoll Sportler soll zur UCI-Abordnung gehört haben. Auf eine Nachfrage von »nd« nach der Zusammensetzung der Gruppe, für die die Ausreise organisiert wurde, reagierte der Radsportweltverband nicht.

Es gibt aber auch wirklich Erfolgsgeschichten. Eine Gruppe von Frauen, die über Australien, Kanada, England und Dänemark verteilt war, organisierte die Flucht des kompletten afghanischen Fußballteams der Frauen sowie von manchen Mitgliedern des Nachwuchsteams. »Wir schafften es, 80 Personen außer Landes zu bringen. Schlüssel für unseren Erfolg war einerseits die Entschlossenheit der Mädchen und Frauen, andererseits aber auch die Organisation, die wir schnell aufgebaut hatten. Wir sandten nicht nur Namenslisten mit gefährdeten Personen an die Regierung, sondern wir hatten auch gleich die Visa-Anträge für jede einzelne mit dabei. Und wir hielten ständig Kontakt, informierten über den Standort von Kontrollposten der Taliban rings um den Flughafen und auch darüber, bei welchen Toren es jeweils günstiger war, in den Flughafen zu kommen«, berichtet Alison Battisson »nd«.

Die Australierin ist Anwältin und Gründerin der Menschenrechtsgruppe Human Rights for All, die selbst sehr aktiv bei der Evakuierung war. Battisson und ihre Kolleginnen rieten den Sportlerinnen dabei auch, keinesfalls Sportkleidung im Gepäck zu haben. »Es wäre angesichts der Gesetze der Taliban, die Sport für Frauen verbieten, lebensgefährlich gewesen, solcherart ›Beweise‹ bei sich zu haben«, erklärt sie.

Die afghanischen Fußballerinnen haben sich jetzt komplett dem australischen Klub Melbourne Victory angeschlossen. Sie nehmen am regulären Ligabetrieb in der Provinz Victoria teil – und sind dabei durchaus erfolgreich. »Sie sind enorme Kämpferinnen, beherrschen manche Rivalinnen regelrecht«, erzählt Battisson mit Stolz. 8:0, 10:0, 12:0 werden manche Teams abgefertigt.

Hilfe von den großen Sportorganisationen wie dem Fußballweltverband Fifa oder dem IOC bekamen die Frauen um Battisson nicht. »Da kam nichts, weder praktisch noch strategisch. Die einzigen, die wirklich halfen und fantastische Arbeit leisteten, waren die Leute von der Spieler*innengewerkschaft FifPro«, erzählt Battisson.

Völlig unklar ist, wie es mit dem afghanischen Sport weitergehen wird. Das IOC ist sowohl mit dem ins Exil gegangenen Nationalen Olympischen Komitee des Landes in Kontakt als auch mit den Sportfunktionären der Taliban. Mit denen wurde sogar ein Unterstützungspaket in Höhe von 560 000 US-Dollar ausgehandelt, das knapp 2000 Sportlerinnen im Land zugute kommen soll. »Das Geld wurde mit Hilfe des UNHCR verteilt, gemäß den Standardprozeduren des Regionalbüros der UNHCR. Die UNHCR verlangte auch, dass alle Empfänger*innen für einen Besuch vor Ort oder ein Telefonat zur Verfügung stehen mussten«, erklärte das IOC.

Exilierte Sportler*innen hatten jedoch den Verdacht geäußert, dass Gelder des Hilfsfonds direkt bei den Taliban und eben nicht bei den Sportler*innen gelandet seien. Für die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris strebt das IOC jedenfalls ein gemischtes Männer- und Frauenteam Afghanistans an. Wie das gelingen kann, wenn Frauen gar nicht Sport treiben dürfen und Männer dabei vom Kinn bis zur Sohle bedeckt sein müssen, ist nur schwer vorstellbar.

Realistisch sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur Teams von Geflüchteten. Das Fußballnationalteam der Frauen könnte da eine Pionierrolle einnehmen. Die Basketballnationalteams der Männer und Frauen sind aktuell in Albanien und können dort gelegentlich auch Benefizspiele absolvieren. Einige Radsportler*innen trainieren am Sitz des Weltverbandes UCI im schweizerischen Aigle. Kampfsportler*innen, Leichtathlet*innen und Snowboarder*innen sind auf Initiative der früheren Olympiateilnehmerin im Judo, Friba Rayazee, nach Kanada ausgereist. Ob sie dort weiter trainieren oder sich erst einmal um die Eingewöhnung in ein neues Leben kümmern müssen, ist allerdings unklar.

Zahra Hosseini, die Radsportpionierin aus Bamiyan, war im Juli das erste Mal seit ihrer Flucht wieder auf dem Fahrrad. »Es war ein tolles Gefühl«, sagt sie. Berufliche Eingliederung und duales Sprachenlernen – Schwedisch und Englisch parallel – haben aber zunächst höhere Priorität.

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