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Masse und Machtlosigkeit
Leo Fischer über Aufrufe von links und rechts zu Demonstrationen gegen steigende Krisenkosten
Ich werde immer sentimental, wenn ich ihn sehe: den klassischen Gewerkschaftsstand mit Kugelschreibern, Klemmbrett und Bockwurst. Schön, dass man sie überhaupt mal wieder sieht, denke ich und werde doch auch ein bisschen depressiv darüber, wie verzweifelt da an einem Werbemodell aus den 60ern festgehalten wird. Während 30 Prozent der jungen Menschen komplett dem ungebremsten Instagram-FDP-Marktradikalismus verfallen sind, unerreichbar für Bockwurst und Klemmbrett. Aber immerhin, sie sind »auf der Straße«, auch wenn die Straße nirgendwohin führt.
Alle, die sich irgendwie links wähnen, träumten wohl schon einmal den Traum von der großen Masse, von der aufgewühlten Menge, die sich in rechtschaffenem Zorn gegen das Bestehende wendet, spontan eine revolutionäre Situation herbeiführt und die alte Gesellschaft hinwegfegt. Viele dürften sich da selbst hineinimaginieren: mindestens als kleiner Lenin, mit flammenden Worten den Durst nach Gerechtigkeit artikulierend. Der Drang zur Masse ist in die linke Ikonografie eingeschrieben; noch in der vollends digitalisierten Welt glaubt man sich nur erfolgreich, wenn man irgendwie die »Leute auf die Straße« gebracht hat.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegengelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.
Aber die großen linken Massenbewegungen wollen sich einfach nicht herstellen. Sind die Leute zu erschöpft, zu sehr gefangen in Verblendung? Gleichwohl, auf die Straße müssen sie, schöne Fotos müssen geschossen, schöne Reden geschwungen werden. Man glaubt die eigenen Wahrheiten nur, wenn sie Echo in einer Menschenmenge finden, und wenn die Wahrheit keine Masse herstellt, dann muss eben die Wahrheit angepasst werden. Solcherlei Revolutionsromantik führt zu den immer gleichen schalen Kompromissen, zu fragwürdigen Allianzen und dem Abrutschen ins Flackerlicht von Querdenkern, Pegidisten und Co. Angesichts der zu erwartenden Versorgungskrise im Herbst rufen schon jetzt einige linke Strateg*innen zu Massenprotesten. Es ist die Rede von neuen Montagsdemos, egal, wer solche zuletzt organisiert hat. Auch die AfD will den kalten Herbst aufheizen. In Neuruppin protestierten gerade Linke und Rechte gegen Olaf Scholz. Die Linke distanzierte sich danach von »Volksverräter«-Rufen.
Die Erinnerungen an die Debakel der »Aufstehen«-Bewegung, der deutschen Gelbwesten und vieler anderer Mitmachaufstände sind verblasst. Man darf doch den Rechten nicht die Straße überlassen, sagen viele, und natürlich, die obszöne Sozialpolitik der Ampel-Koalition bedarf einer scharfen Reaktion. Aber in manchen Aufrufen ist die Abgrenzung zu den Rechten so vage, dass ihr Scheitern vorbestimmt scheint. Die Straße ihnen nicht zu überlassen, heißt bei vielen schon jetzt: Was können wir denn dafür, wenn die da mitlaufen? Es geht um höhere Ziele! Die faktische Machtlosigkeit der gesellschaftlichen Linken macht ihre Fabelträume von Masse und Macht nur surrealer.
Wer von massenhaften Protesten nicht träumen kann, ohne vorher gedanklich seinen Frieden mit den Rechten gemacht zu haben, sollte besser zu Hause bleiben. Dass eine massenhafte, gesellschaftlich erfolgreiche Protestbewegung ohne sichtbar rechte Trittbrettfahrer auskommen kann, zeigen die Fridays for Future. Ihre Sprache, ihr Auftreten machten fragwürdige Allianzen unmöglich. Ihrem Erfolg hat es nicht geschadet, ihre Anliegen sind tief in die gesellschaftliche Mitte eingesickert.
Rechte, reaktionäre Politik hat die aktuelle Krise herbeigeführt. Der nötige Sozialprotest gegen die neue Austeritätspolitik muss sich auch gegen die Rechten richten – und darf sie keinesfalls irgendwie »mitnehmen«.
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