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Wer sind »wir«?
Die Deutschen wähnen sich als wahre Opfer der Gewaltexzesse von Rostock-Lichtenhagen
Vom 22. bis zum 26. August gedenken wir der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen. Es war 1992 und ich im Grundschulalter, als Rechtsradikale, nicht weit von meinem Zuhause, zu massiver rassistischer Gewalt gegen vietnamesische Vertragsarbeiter*innen und Osteuropäer*innen in einer zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen aufrufen. Molotow-Cocktails fliegen auf das Sonnenblumenhaus. Hunderte gewaltbereite Rechtsradikale greifen die im Haus eingeschlossenen Bewohner*innen an, während Tausende Menschen ihnen zujubeln. Schon Monate vorher war klar, dass es zu diesen Pogromen kommen wird. Erst als ich erwachsen bin, spricht meine Mutter irgendwann mit mir über die 1990er Jahre in Deutschland. Über Mölln, Solingen, die Asyldebatten, die unsere Familie auch deshalb besonders betrafen, weil ein Großteil meiner Verwandten in den 90er Jahren politisches Asyl in Deutschland suchte.
Die rassistischen Ausschreitungen, Anschläge und Pogrome bildeten den Höhepunkt einer allgemeinen rassistischen Haltung in der Gesellschaft und politischen Debatten über Asyl und Migration der 90er Jahre in Deutschland. Während in Deutschland nicht-weiße Deutsche angegriffen wurden, blieb meiner Familie keine andere Wahl, als nach Deutschland zu kommen. In ihrer Heimat konnte sie auf keinen Fall bleiben. Dort hatte man sie per Gesetz zu Ungläubigen erklärt. Und nur ein kleiner Verstoß gegen die Blasphemie-Gesetze konnte von Gefängnisstrafe bis zum Todesurteil alles bedeuten. So wagten sie lieber die Flucht zu ihren Verwandten in den Westen, nichtsahnend, dass auch hier ihre Existenz alles andere als gern gesehen wurde.
So kamen meine Großeltern nach Deutschland und lebten jahrelang in Asylheimen, sogenannten Lagern. Wann immer wir konnten, waren wir bei ihnen. Für mich war es ein normaler Besuch bei den Großeltern. Es wurde mit allen gegessen und bei Chai über alles Mögliche diskutiert. Erst Jahre später begriff ich, dass meine Eltern jede Nacht Angst hatten, jemand könnte das Lager angreifen. Tanten, Onkel, Bekannte – alle waren in höchster Alarmbereitschaft. Und auch wenn sie bis heute nicht die passenden Worte finden, das Gefühl und die Stimmung zu der Zeit zu beschreiben – die Angst hat sich ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation eingebrannt.
Zurück ins Hier und Heute frage ich mich, wie es mit dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen ausschaut. Ein Blick in Deutschlands Zeitungen ernüchtert: Von rassistischer Gewalt wird im Plusquamperfekt gesprochen. Vollendete Vergangenheit. Ich lese in einem Artikel, dass am Jahrestag der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen am Donnerstag der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in die Stadt kommen wird. Im nächsten Satz steht etwas vom »Erinnern an der alten Wunde«. Wessen Wunde eigentlich? Der Stadt? Oder ganz Deutschlands? Wenn die Pogrome eine Wunde hinterlassen hatten, war die Verschärfung des Asylrechts als Antwort darauf dann also eine Heilung?
Ich vergesse immer wieder, dass ja eigentlich die Deutschen die wahren Opfer solcher traumatischen Ereignisse sind. Immer ist es ein »Angriff auf uns alle«. Ob Rostock-Lichtenhagen oder Hanau. Mittlerweile sitzt die Performance richtig gut. Und wenn es nicht, auch dank der sozialen Medien, all die Gegennarrative geben würde, könnte man ihnen die Performance auch abkaufen. Die armen Deutschen. Sie leiden bis heute darunter, was Hitler und die Nationalsozialisten ihnen angetan haben. Die 1990er Jahre waren auch sehr schlimm. Aber das haben »wir« alles hinter uns gelassen. Die Kontinuität rassistischer Asyl- und Migrationspolitik ignorieren wir einfach, wie das Sterben im Mittelmeer und an den Grenzen Europas. Wir schieben weiterhin ab und überlassen die Menschen in Afghanistan ihrem Schicksal. Denn heute machen wir Deutschen feministische Außenpolitik.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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