Gerät Fukushima in Vergessenheit?

In Japan sollen die AKW-Laufzeiten verlängert werden. Auch über neue Reaktoren wird nachgedacht

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist nicht lange her, da schien die Atomkraft in Japan nur noch ein Auslaufmodell zu sein. Als zu gefährlich galt sie und daher auch als politisch zu riskant. Nicht einmal die im Land gut vernetzte Atomlobby vermochte es in den vergangenen Jahren, Regierungsvertretern ein Werben für die Kernenergie zu entlocken. Auch wenn zuletzt schon wieder zehn der insgesamt 54 Reaktoren ans Netz genommen wurden, blieb ein Thema ein rotes Tuch: der Bau neuer Atomkraftwerke.

Doch diese Zeiten sind nun vorbei. Vor wenigen Tagen erklärten Offizielle aus dem Wirtschaftsministerium, die Regierung sehe angesichts gestiegener Energiepreise und aus Furcht vor einem Winter mit Energieengpässen keinen anderen Ausweg mehr. Neben einer Laufzeitverlängerung für bereits bestehende Reaktoren von bisher bis zu 40 auf künftig 60 Jahre sollen auch ganz neue – angeblich effizientere sowie sicherere – AKWs gebaut werden. So wolle man für geringere Importabhängigkeit und Umweltbelastung sorgen.

Nirgends dürfte ein solches Vorhaben kontroverser sein als in Japan. Am 11. März 2011 war das ostasiatische Land von der schwersten Katastrophe seiner jüngeren Geschichte erschüttert worden, als nach einem schweren Erdbeben und Tsunami das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi an der Nordostküste havarierte. In drei der sechs Reaktoren kam es zu Kernschmelzen. Nach dem Super-GAU wurde die Bevölkerung in einem Umkreis von bis zu 60 Kilometern evakuiert.

Die darauffolgenden Monate waren von politischem Chaos geprägt. Für das Land untypisch große Demonstrationen gaben in Tokio den Takt vor. Der linksliberale Premierminister Naoto Kan kündigte den Ausstieg aus der Atomkraft an, was in der Regierung zu Unstimmigkeiten führte. Als Kan zurückgetreten war, warb zwar auch dessen Nachfolger Yoshihiko Noda mit einem Ausstieg. Doch Ende 2012 wurde die Demokratische Partei abgewählt – zugunsten der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP), die zuvor immer auf eine Zukunft mit Atomkraft gesetzt hatte. Gewählt wurde sie aber für das Versprechen ihres Spitzenkandidaten Shinzo Abe, mit einer aggressiven Ausgaben-, lockeren Geld- und Strukturpolitik für eine neue Wachstumsära zu sorgen. Über die Pläne zur Atomkraft sah das Wahlvolk weitgehend hinweg.

Nach der Katastrophe von Fukushima waren alle 54 Reaktoren vom Netz genommen worden. Früher hatte Japan rund 30 Prozent seines Energiebedarfs mit Atomkraft gedeckt, dann setzte man verstärkt auf teure Importe fossiler Brennstoffe aus dem Mittleren Osten. Während weiterhin Zehntausende aus der Katastrophengegend evakuiert blieben, vollzog die LDP schon ab 2014 einen zaghaften Wiedereinstieg, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung dagegen war. Und als um 2020 die Industriestaaten sich das Ziel setzten, bis 2050 klimaneutrale Volkswirtschaften werden zu wollen, spielte im Falle Japans auch die Atomkraft eine zentrale Rolle.

Das Festhalten an der Kernenergie war bei der Bevölkerung stets unbeliebt. Auch die Beteuerungen der Regierung, strengere Sicherheitsstandards für die Reaktoren und eine strukturelle Neuorganisation der Aufsichtsbehörden zu gewährleisten, konnten daran wenig ändern. Erst als in diesem Frühjahr inmitten der Invasion der russischen Regierung in die Ukraine die Energiepreise empfindlich zu steigen begannen, kippte die Stimmung. Im April ergab eine Umfrage der Wirtschaftstageszeitung »Nikkei« erstmals seit 2011, dass eine Mehrheit für die Nutzung der Atomkraft war.

Seither haben sich die Energiepreise kaum beruhigt. Die japanische Regierung allerdings hat weitere Schritte unternommen, um einen Wiedereinstieg in die Atomkraft zu beschleunigen. Während sich derzeit nur rund fünf Prozent des Energiemixes aus den AKWs speist, soll dieser Anteil bis 2030 wieder auf 22 Prozent steigen.

Dabei besteht die Gefahr, dass das zuletzt gestiegene öffentliche Vertrauen in die Kernenergie bald wieder sinkt. Einerseits ist da die Frage der Unfallgefahr, die durch den Bau neuer Reaktoren und die Aufwertung älterer Kraftwerksgenerationen zwar reduziert werden soll. Aber in den Augen von Kritikern läuft schon die aktuelle Eile bei der Wiederinbetriebnahme stillstehender Reaktoren dem Versprechen erhöhter Sicherheitsbestimmungen zuwider. Andererseits hat man auch in Japan bis heute keine Antwort auf die Frage gefunden, wie mit den täglich zunehmenden Mengen von hochradioaktivem Atommüll umgegangen werden soll.

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