Der Preis der EU-Mitgliedschaft

Olaf Scholz spricht sich bei seiner Prager Grundsatzrede für eine Osterweiterung unter Bedingungen aus

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Hauptgebäude der Karls-Universität liegt mitten in der Prager Altstadt. Olaf Scholz hat diesen Ort ausgewählt, um am Montagvormittag seine Grundsatzrede zur Europapolitik zu halten. Der Bundeskanzler schwärmt vom europäischen Erbe der tschechischen Hauptstadt, von ihren mittelalterlichen Burgen und Brücken. Auch die Universität hat eine lange Tradition. Sie wurde am 7. April 1348 von Karl IV. gegründet und gilt als älteste Universität in Mitteleuropa. Ein Standbild des einstigen römisch-deutschen Kaisers mit Krone und Zepter blickt auf Scholz herab.

Der Kanzler erinnert auch an die dunklen Kapitel der Universitätsgeschichte. Scholz spricht von einer »Gleichschaltung während der Diktaturen des 20. Jahrhunderts«. Allerdings wird klar, dass der Sozialdemokrat zu unterscheiden weiß, welche Auswirkungen die Nazibesatzung von 1939 bis 1945 einerseits und die Politik der Tschechoslowakei zwischen 1948 und 1989 andererseits auf die Universität, die Stadt und das gesamte Land hatten. Scholz erinnert an die zwischenzeitliche Schließung der Universität nach Protesten im November 1939 durch die Besatzer. Einige Studierende wurden erschossen, andere zusammen mit Dozenten und Professoren in Konzentrationslager deportiert.

Nun sieht Scholz Europa in einem Kampf zwischen »Freiheit« und »imperialer Autokratie«. »Der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung. Wir wollen nicht zurück in das Europa des 19. und 20. Jahrhunderts mit seinen Eroberungskriegen«, verkündet Scholz. Er verteidigt die Waffenlieferungen an die Ukraine, die Sanktionen gegen Russland und die Aufnahme von Geflüchteten aus dem Kriegsland.

Scholz weiß, dass das »vereinte Europa ein Dorn im Auge des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist«. Dieser Konflikt wird sich wohl nicht beilegen lassen. Der Bundeskanzler will, dass die Europäische Union erweitert wird. Im Juli hatte die EU Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien aufgenommen.

Die Ukraine und die Republik Moldau sind inzwischen Beitrittskandidaten, aber ihr Weg in den Staatenverbund ist noch sehr lang. So wird die Regierung in Kiew von den USA, dem Internationalen Währungsfonds IWF und der EU zu neoliberalen Reformen gedrängt. Das hat nun die europäischen Gewerkschaften auf den Plan gerufen. Ein neues Gesetz in der Ukraine schränkt laut den Gewerkschaften vor allem die Rechte der Arbeiter in Unternehmen mit weniger als 250 Angestellten ein und schafft Anreize für Chefs, Firmen auf Kosten der Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte in kleinere Einheiten aufzuteilen. Der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC und der Internationale Gewerkschaftsbund ITUC schrieben kürzlich in einem Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel, dass das Gesetz im Widerspruch mit den im EU-Recht verankerten Prinzipien der Nichtdiskriminierung und des sozialen Dialogs stehe.

Mit solchen Konflikten hält sich Scholz, dessen Partei die Gewerkschaften bei anderen Fragen als zentrale Partner sieht, in seiner Rede nicht auf. »Dass die EU weiter in Richtung Osten wächst, ist ein Gewinn«, erklärt er. Doch in einer immer größer werdenden EU müssen aus seiner Sicht neue Regeln herrschen. Scholz bekräftigt seine Forderung, dass im EU-Ministerrat häufiger auf Mehrheitsentscheidungen gesetzt werden müsse. Das gelte für die Außenpolitik, aber auch die Steuerpolitik. Die EU-Kommission solle ihre Arbeitsweise ebenfalls anpassen. Jedes Land solle weiterhin einen Kommissar entsenden dürfen. »Aber was spricht dagegen, dass zwei Kommissionsmitglieder gemeinsam für eine Generaldirektion zuständig sind?«, fragt Scholz das Publikum, wo vor allem Studierende und Lehrkräfte der Universität sitzen.

Als Zwischenschritt vor der EU-Erweiterung regt Scholz eine neue europäische politische Gemeinschaft an, die einen engeren Austausch mit Partnern von außen ermöglichen soll. Derzeit fehle ein Forum, bei dem die Staats- und Regierungschefs der EU mit Partnerstaaten ein- oder zweimal jährlich zentrale Themen besprechen könnten. »Solch ein Zusammenschluss ist keine Alternative zur anstehenden EU-Erweiterung«, sagt Scholz. Bei dieser Idee arbeitet er mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zusammen.

Ein zusammenwachsendes Europa ist in der Vision des Kanzlers auch eine Militärunion. Das gilt für Rüstungsprojekte, Waffenlieferungen und Militärmissionen. Neu ist die Ankündigung von Scholz, dass es ein gemeinsames Luftverteidigungssystem geben könnte. Das wäre kostengünstiger und leistungsfähiger als nationale Lösungen. Als mögliche Partner nennt er die Niederlande, Polen, Tschechien, die Slowakei sowie die Länder im Baltikum und in Skandinavien.

Allerdings weiß auch Scholz, dass in der EU nicht alles ideal läuft. Großbritannien hat den Staatenverbund verlassen und aus Ungarn gibt es immer wieder Querschüsse gegen die Linie der EU. Trotz der europäischen Bestrebungen, unabhängiger von Energielieferungen aus Russland zu werden, setzt der Budapester Regierungschef Viktor Orbán weiter auf eine Kooperation mit Moskau und will zusätzliches Gas aus dem Land beziehen.

Allein deswegen gibt es gewichtige Stimmen in Brüssel und Berlin, die meinen, dass die ungarische Regierung diszipliniert werden müsse. Doch Scholz setzt an einem anderen Punkt an. Er warnt vor Rassismus und Antisemitismus in der EU. Damit ist offensichtlich Orbán gemeint, der bei einer Rede in Rumänien in diesem Sommer über europäische Völker wie Ungarn, Rumänen und Slowaken gesagt hatte, dass diese »nicht zu Gemischtrassigen werden« wollten.

Verstöße gegen Grundwerte der EU sollten leichter zu einem Fall für den Europäischen Gerichtshof werden können. Scholz spricht sich dafür aus, der EU-Kommission einen neuen Weg zu eröffnen, Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einzuleiten. Scholz will auch, dass etwas gegen die Blockademöglichkeiten im Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags getan wird. Dieses sieht die Möglichkeit der Suspendierung der Stimmrechte von EU-Staaten vor, sollten diese schwerwiegend und anhaltend gegen EU-Werte verstoßen. Das Verfahren wurde gegen Ungarn und Polen schon vor längerer Zeit begonnen. Es kam aber bislang nicht voran, auch weil sich Ungarn und Polen gegenseitig mit einem Veto schützen können.

Vor einiger Zeit wäre es für Scholz noch brisant gewesen, auf tschechischem Boden einen mittelosteuropäischen Nachbarn hart anzugehen. Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn hatten sich zur Visegrád-Gruppe zusammengeschlossen, die als Interessengemeinschaft fungieren sollte. Gemeinsam machten die Staaten etwa Stimmung gegen muslimische Schutzsuchende und wehrten sich dagegen, auch nur eine kleine Anzahl dieser Menschen bei sich aufzunehmen. Inzwischen ist es mit der Einheit in der Gruppe vorbei, weil Orbán viele Sanktionen gegen Russland kritischer sieht als seine Amtskollegen in den anderen EU-Ländern.

Zwischen Scholz und dem tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala, dessen Land derzeit den EU-Vorsitz innehat, gibt es wenig Differenzen. Nach seinem Auftritt an der Universität sprechen Scholz und Fiala noch hinter verschlossenen Türen über einen geplanten Ringtausch von Panzern. Tschechien erhält 14 deutsche Leopard-2-Kampfpanzer und einen Bergepanzer Büffel als Ausgleich für an die Ukraine gelieferte T72-Panzer sowjetischer Bauart.

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