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Ärger im Gepäck
Lieferando will nach der Betriebsratswahl in Berlin die Kündigung ehemaliger Wahlvorstände vor Gericht durchsetzen
Beim Essenslieferdienst Lieferando wollen die Auseinandersetzungen rund um die Betriebsratswahl nicht abebben. Anfang August hatten die Beschäftigten im operativen Geschäft des Standorts Berlin eine 17-köpfige Interessensvertretung für die rund 1400 Kurier*innen gewählt, die in der Hauptstadt für den Konzern tätig sind. Bereits zuvor hatten einige Beschäftigte einer zentralen Verteilerstelle, dem sogenannten HUB, erfolglos die Wahlliste beanstandet und zeitgleich versucht, die Abstimmung zu stoppen.
Doch damit nicht genug: Nach der durchgeführten Wahl soll das Unternehmen nun beim Berliner Arbeitsgericht die außerordentliche Kündigung ehemaliger Mitglieder des Wahlvorstands beantragt haben. Laut Angaben, die betroffene Beschäftigte gegenüber »nd« machen, handelt es sich um neun Betriebsrät*innen sowie um ein Ersatzmitglied der Arbeitnehmervertretung. Mit Ausnahme eines Wahlvorstandes sind die Kündigungsanträge den Beschäftigten zufolge erst nach Konstituierung des Gremiums eingegangen. Betriebsratsmitglieder und Wahlvorstände genießen besonderen Kündigungsschutz, es bedarf für deren Entlassung daher eines wichtigen Grundes.
Die Anträge auf außerordentliche Kündigung begründet das Unternehmen in Gerichtsschreiben, die »nd« vorliegen, mit dem Verdacht, dass die Betroffenen sich für ihre Funktion als Wahlvorstände Arbeitszeit eingetragen hätten, ohne tatsächlich zu arbeiten. So sei das Stundenaufkommen des Wahlvorstandes von rund 4600 Stunden innerhalb von sieben Monaten nicht nachvollziehbar. Die Beschäftigten hätten für ihre Arbeit als Wahlvorstände meist volle oder halbe Schichten eingetragen und dabei Stunden aufgerundet. Auch seien die Arbeitsorte für die Wahlvorstandsarbeit nicht genau angegeben gewesen, obwohl dies laut Lieferando notwendig ist. Zudem seien Wahlvorstände nicht über Diensthandys und Dienstmails erreichbar gewesen.
»Als Wahlvorstände haben wir alle Entscheidungen im Kollektiv getroffen. Auch die Umstände, dass wir als juristische Laien mehrsprachig gearbeitet haben und eine Wahl in einem dezentral organisierten Betrieb ohne zentrale Arbeitsstätte vorbereiten und durchführen mussten, tragen zum Zeitaufwand für die Wahlvorstandsarbeit bei«, sagt dazu Moritz W., einer der betroffenen Betriebsräte im Gespräch mit »nd«.
Hinzu käme, dass Lieferando die für die Vorbereitung der Wahl notwendigen Unterlagen nur sehr zögerlich zugänglich gemacht habe. Moritz W. wirft dem Unternehmen vor, absichtlich gegen die Durchführung der Wahl agiert zu haben: »Die Einforderung einer Plausibilitätsprüfung der Wahlvorstandsarbeit wurde seitens des Managements kurioserweise in die heiße Wahlphase gelegt. Das stellt für mich klar eine versuchte Behinderung unserer Tätigkeit dar, wogegen wir auch mit Abmahnungen vorgehen.«
Gegenüber »nd« bestätigt eine Lieferando-Sprecherin das Vorliegen von Verfahren und den Verdacht des Arbeitszeitbetrugs bei »mehreren Wahlvorständen«, ohne deren genaue Zahl zu nennen. Die angegebenen Stunden überstiegen den üblichen Aufwand um ein Vielfaches. Man begrüße bei Lieferando die betriebliche Mitbestimmung und habe den Wahlvorstand umfassend unterstützt. »Wir haben alles versucht, den Sachverhalt mit den Betroffenen und dem Wahlvorstand aufzuklären«, erklärt die Sprecherin. Da die Betroffenen die Auskunft jedoch verweigert hätten, ließe man den Sachverhalt nun ergebnisoffen vor Gericht klären.
»Die Kündigungsversuche sind nicht das erste Glied in einer Kette von Versuchen des Union Busting seitens Lieferando«, sagt eine weitere Betriebsrätin von der Liste »Lieferando Workers Collective«, welche maßgeblich an der Organisation der Betriebsratswahl beteiligt war. »Wir konnten bei der Wahl nur mit den wenigen Informationen arbeiten, die uns das Unternehmen gibt, mussten aber irgendwann Entscheidungen treffen, woraufhin die Wählerliste und die Wahl beanstandet wurden. Vieles scheint darauf ausgelegt zu sein, dass man uns nachher die Versäumnisse Lieferandos als Fehler ankreiden kann.«
Auch an anderer Stelle sieht die Beschäftigte Hürden in der alltäglichen Arbeit: »Das Büro, welches uns zur Verfügung gestellt wird, war für den gesamten Wahlvorstand zu klein, was uns auch seitens des Bürovermieters bestätigt wurde«. Lieferando bestreitet die geringe Bürogröße auf nd-Anfrage, dieses sei nach den Anforderungen des Wahlvorstandes bereitgestellt worden und könne auch weiterhin benutzt werden.
Ob die Kündigungsanträge vor Gericht standhalten, ist offen. Auch die Frage, ob die Wahl des Betriebsrats regelkonform war, scheint noch einmal zum Streitthema zu werden. Beim Arbeitsgericht laufen derzeit noch zwei Anfechtungsverfahren, die sich hiermit auseinandersetzen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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